Vier Kölner Jahre. Thomas von Aquins Studienzeit in Köln

Zwei Dinge sind legendarisch über Thomas von Aquins Kölner Studienjahren (1248-1252) überliefert:

  • Eines Tages habe er in panischem Schrecken einen sprechenden Roboter, den sein Lehrer Albertus Magnus mittels allerlei faustisch-alchemistischer Zauberkunst hergestellt hatte, zerstört, damit aber „seinen“ Magister zur Abkehr von falschem Streben bewegt
    (siehe zum Vorwurf des Faustischen gegenüber Albertus den Beitrag vom 15. November 2020).
  • Von seinen Kommilitonen, einem bunten europäischen Völkchen, dem sehr bald nach Gründung der Kölner Dominikaner-Hochschule Schweden, Italiener, Ungarn, Böhmen, Flamen und viele „Nationalitäten“ mehr angehörten, sei er „der stumme Ochse“ genannt worden. Die angebliche Sprachlosigkeit („stumm“) des körpergewichtigen („Ochse“) Süditalieners dürfte dessen anfangs schlicht nicht vorhandenen mittelhochdeutschen Sprachkenntnissen geschuldet gewesen sein. Die Überlieferung überließ den jungen Thomas lange vor Abfassung seines Opus Magnum, der zwischen 1265 und 1273 entstandenen, doch unvollendet gebliebenen „Summe der Theologie“, als einfältig-dümmlichen Scholar, der es dann aber – oh Wunder !, oh welch sich selbst verbergende Intelligenz ! –  zur allerhöchsten Beredsamkeit gebracht haben soll (Thomas soll seine Schriften immer drei bis vier Schreibern gleichzeitig diktiert haben), dem kollektiven Gedächtnis. Weisen schon die Albertus-Legenden Parallelen zum Fauststoff auf, so wirkt auch der „stumme Ochse“ in der Nachschau wie eine Vorlage zum stupenden Famulus Wagner in Goethes „Faust“.

Tatsächlich dürften Thomas‘ Studien bei Albert dem Großen und damit auch seine Kölner Zeit von größtem Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung des Aquinaten gehabt haben. Die Durchsetzungskraft und, wo es um den rechten Weg ging, die Missachtung von Autoritäten, die aus der Legende von der Zerstörung der Albertinischen Mensch-Maschine spricht, hatte Thomas schon in seiner frühen Vita unter Beweis gestellt. Von seinen Eltern, dem Grafenpaar Landolf von Aquino und der Donna Theodora Gräfin von Teate, war er bereits im Alter von fünf Jahren – Thomas wurde 1224 oder 1225 in Roccasecca bei Aquino geboren – als Oblate dem Benediktinerkloster Montecassino versprochen. Thomas’ Vaterbruder Sinibald war dort Abt und der junge Grafensohn sollte der Familienräson, der nach jeweils der Jüngstgeborene in ein geistliches Amt gesteckt wurde, unterliegen. Nicht zuletzt erhoffte sich die Familie durch Thomas‘ Leben als Priestermönch im vornehmen Montecassino weitere gesellschaftliche Reputation. 1239 bis 1244 also besuchte Bruder Thomas das studium generale an der von Kaiser Friedrich II. gegründeten Universität zu Neapel. Hier wurde er bereits auf Aristoteles aufmerksam, dessen gewaltiges Werk mit Ausnahme der logischen Schriften in der vor- und frühscholastischen Tradition des lateinischen Mittelalters bislang kaum erst übersetzt, geschweige denn gebilligt worden war.

Doch dann „konvertierte“ der 19-jährige entgegen aller an ihn gerichteten Erwartungen zum jungen und zumindest damals latent gegen die Amtskirche gestimmten Dominikanerorden, der sich der Armut und dem Predigertum verschrieben hatte. Thomas‘ geistliche Brüder suchten ihn nun vor dem Einfluss der Familie zu entziehen, entsandten ihn nach Rom und bald darauf in den italienischen Norden nach Bologna. Auf dem Weg dorthin überfielen ihn jedoch seine von der Mutter beauftragten leiblichen Brüdern und verschleppten Thomas nach Roccasecca. Eineinhalb Jahre – von Mai 1244 bis zum Herbst 1245 – hielt ihn la famiglia in der Stammburg fest. Doch Thomas blieb standhaft, so dass man schließlich nachgab und ihn zu den Dominikanern nach Neapel zurückkehren ließ. Der Konvent entsandte ihn nun an die damals bedeutendste Hochschule des Abendlands, an die traditionell vom Dominikanerorden dominierte Pariser Universität (zur Pariser „Sorbonne“ siehe meinen Beitrag vom 8. September 2020) Und hier kam es zur – will sagen: schicksalhaften Begegnung mit Albertus Magnus.

Lesemeister an der Dominikaner-Hochschule in Köln, gemeinfrei

Albert von Lauingen war in Paris bereits zwei Jahre lang als Sentenzen-Bakkalaureus tätig gewesen. 1245 erlangte er den Grad eines Magisters. Die wohl in den 1140er Jahren verfassten Sententiae des Petrus Lombardus waren eine auf vier Bücher verteilte Kompilation sorgfältig ausgewählter Aussagen (Sentenzen) der Kirchenväter über die Heilige Schrift und galten damals als zwar nicht widerspruchsfreie, aber dennoch doktrinär abgeschlossene Systematik der gesamten aktuellen Theologie. Obligatorischer Bestandteil eines Magisterstudiums (der mittelalterliche Magister ist dem heutigen ordentlichen Professor vergleichbar) war die über Disputationen geführte Kommentierung des Petrus Lombardus zwischen den Bakkalaureaten (der mittelalterliche Bakkalaureus ist dem heutigen Master vergleichbar) und einem Magister. Der Sentenzen-Bakkalaureus unterrichtete wiederum die Studiosi.

Drei Jahre lang war nun Thomas „Hörer“ bei Magister Albert bis dieser 1248 als Begründer und erster Rektor des studium generale der Dominikaner-Hochschule nach Köln berufen wurde. Mit Albert kam auch Thomas als dessen Assistent an den Rhein. Und spätestens hier kamen Alberts seinerzeit ungewöhnliche wissenschaftliche Vorlieben zum Vorschein. Zwar hatte dieser in Paris bereits ein über das übliche Maß hinausragendes Interesse an Aristoteles gezeigt und zudem die arabisch-islamischen Philosophen Avicenna und Averroes wie auch den jüdischen Gelehrten Maimonides – die wiederum entscheidende Bedeutung für die Überlieferung der Philosophie des altgriechischen Heiden fürs christliche Abendland hatten; in doppelter Hinsicht die entscheidenden Übersetzer dieser nicht-christlichen Tradition für die europäische Scholastik wiederum waren Albert und Thomas ! – gelesen, und Thomas hatte gehört. Nun aber wandte sich Albert entschieden dem Naturstudium und den Schriften des Pseudo-Dionysius Aeropagita zu, welcher die platonische Ideenlehre für die Theologie nutzbar gemacht hatte und damit auch als potentieller Vereiniger heidnisch-griechischer Philosophie mit dem Christentum galt. Thomas hat uns in seiner berüchtigten littera inintelligibilis („unleserliche Handschrift“) eine Nachschrift der Vorlesung Alberts über De divinis nomibus („Über die göttlichen Namen“) des Pseudo-Dionysius im Original hinterlassen. Aus dem pseudo-dionysischen Neuplatonismus schöpfte Thomas später seine Ausführungen über das Verhältnis von Sein und Seiendem, von Schöpfung und Geschöpf, von Gott zu Mensch und jeglichem Ding und Wesen.

gemeinfrei

Thomas von Aquin (postumes Gemälde von Joos van Wassenhove, auch Justus van Gent, um 1475), gemeinfrei

Geradezu revolutionär aber war es, als Albert ab 1250 Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“ kommentierte. Das bis heute relevante Grundlagenwerk der europäischen Moralphilosophie war erst drei Jahre zuvor komplett ins Lateinische übersetzt worden. Die Quintessenz der Ethika Nikomachia besteht darin, dass Aristoteles die Frage nach der Glückseligkeit, die Frage, wie nämlich dieses höchste menschliche Gut erreicht werden könne, in der theoria, also in der philosophischen Betrachtung der Wirklichkeit beantwortet sah. Damit war das Philosophieren moralphilosophisch begründet und der Philosophie selbst das Feld als epistemischer und methodologischer Grund aller Wissenschaft, also auch der Theologie eröffnet. Genau dies – dass die Philosophie in der Reihenfolge der Tätigkeiten der Erkenntnis Gottes vorausgehen müsse – wird später zu einer Grundannahme in der Systematik Thomas von Aquins! Thomas hatte in der doppelten Adaption der (neu-)platonischen und der aristotelischen Lehre die Forderung Alberts, man müsse Aristoteles und Platon für eine wahrhaftige christliche Lehre zusammenbringen, auf maximale Weise entsprochen, mehr als es Albert, der mehr Sammler des Wissens als Systematiker war, selbst gelang.

Albert hatte wohl die höhere Begabung seines besten Schülers klar erkannt. Die späteren Bilder vom antifaustischen Sockelstürmer und vom tumben Vieh dialektisch vorausschauend und miteinander versöhnend klingt die Albert zugeschriebene Prognose über Thomas: „Den ihr einen stummen Ochsen nennt, wird noch so in der Lehre hervortreten, dass sich über seine kraftvolle Stimme die ganze Welt wundern wird.“

Wohn- und Schulstätte der Kölner Dominikaner war das Kloster an der Stolkgasse, gemeinfrei

Thomas‘ weiterer Werdegang nach Abschluss seiner Studien in Köln sei zum Schluss nur in wenigen, äußeren Strichen gezeichnet:

1252 bis 1256 war Thomas von Aquin Sentenzen-Bakkalaureus in Paris. Als Magister lehrte er dort die folgenden drei Jahre. 1259 wird er nach Rom berufen und erst dort beginnt er mit der Abfassung seines Hauptwerks, der Summa Theologiae, der systematischsten Schrift der europäischen Scholastik. 1268 wechselte er für vier weitere Jahre noch einmal nach Paris bis er 1272 zum Aufbau einer weiteren Hochschule nach Neapel entsandt wurde. Dort verstummte der mittlerweile als doctor angelicus, doctor communis, doctor ecclesiae, angelus scholae, pater ecclesiae, lumen ecclesiae oder alter Augustinus zu höchsten Ehrennamen Gekommene urplötzlich. Thomas stellte nach einem Gottesdienst am Nikolaustag 1273 jegliche weitere Arbeit an seinem Werk ein. Seiner Schwester gegenüber äußerte er sich so: „Alles, was ich geschrieben habe, erscheint mir wie Stroh im Vergleich zu dem, was mir jetzt offenbar wurde.“ Drei Monate später, am 7. März 1247, verstarb Thomas von Aquin.

Titelbild:

Benozzo Gozzoli, „Triumph des Hl. Thomas von Aquin über Averroes“ (1468/84). Thomas sitzt zwischen Aristoteles und Platon, vor ihm liegt niedergeworfen Averroes, gemeinfrei

28. Januar 2021 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein