GoetheAkademie – Goethe Gesellschaft und Thomas-Morus-Akademie

Unverwechselbar: Goethe! Gespräch mit dem Vizepräsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar

Es ist ein sehr besonderer Moment, wenn Dr. Silke Henke einen Text von Johann Wolfgang von Goethe oder Friedrich Schiller „enthüllt“. Eindrucksvoll weist sie dann die Gäste einer Goethe Akademie in der ehrwürdigen Petersen-Bibliothek des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar auf Textfeinheiten und Kontexte hin, erläutert Herausforderungen der Konservierung und digitalen Archivierung. Aber: Woher rührt die Faszination, die die Originale Goethes bis heute ausüben? Was empfiehlt Professor Dr. Jochen Golz jenen, die sich „endlich wieder einmal“ Goethes Werken annähern möchten? Mit dem langjährigen Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs und Vizepräsidenten der Goethe-Gesellschaft in Weimar sprach Akademiereferentin Elisabeth Bremekamp.

Goethe und Schiller-ArchivHerr Professor Golz, warum ist es Ihnen im Rahmen der Goethe Akademien so wichtig, auch das Goethe- und Schiller-Archiv, das malerisch am Hochufer der Ilm in Weimar liegt, zu besuchen?

Mit Fug und Recht firmiert das Weimarer Archiv, ein klassizistischer Prachtbau von 1896, als Pantheon des deutschen Geistes, in dessen gut gesicherten Magazinen sich Millionen Blätter befinden. Neben den Manuskripten der Namensgeber nennt das Archiv über 100 Nachlässe von prominenten Autoren sein Eigen. Passend zu den Themen der Akademien können wir dort kostbare Originale präsentieren und kundig erläutern. Geht es um Goethes „Faust“, können Blicke auf „Faust“-Handschriften geworfen werden, kommt die schwierige Beziehung zwischen Heinrich von Kleist und Goethe zur Sprache, darf Kleists einziger Brief an den Weimarer Dichter nicht fehlen.

Was bedeutet das Anschauen von Originalen für die Annäherung, für das Verständnis eines Textes von Goethe oder Schiller?

Gespräche über Literatur erhalten hierdurch eine sinnliche, beinahe haptische Dimension. Mag sich der eine oder andere vorher fragen, was von einem Archivbesuch zu erwarten ist, hinterher stellt sich stets der gleiche Eindruck ein: Für die Anwesenden sind es Glücksmomente, einen Blick in die Werkstatt des Autors werfen, ihm gewissermaßen über die Schulter blicken zu können. Ein Goethe-Vers, geschrieben für das Schloss in Dornburg, mag auch für Archivbesucher Geltung besitzen: „Freudig trete herein, und froh entferne dich wieder“.

Können Sie sich erinnern, welcher Goethe-Text für Sie sozusagen „Initialzündung“ war, sich mit seinem Leben, Werk und Wirken über Jahrzehnte so intensiv zu beschäftigen?

Mit 14 Jahren schenkten mir meine Eltern eine zehnbändige Goethe-Ausgabe, die in den ersten beiden Bänden Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ enthielt. Als ordentlicher Leser begann ich mit diesem Anfang, und das war keine schlechte Wahl. Später schloss sich die Lektüre weiterer Bände an, nachdem die „Initialzündung“ einmal stattgefunden hatte.

Welches Gedicht von Goethe ist Ihnen besonders wertvoll? Verraten Sie uns den Grund?

Liebliches

Was doch buntes dort verbindet
Mir den Himmel mit der Höhe?
Morgennebelung verblindet
Mir des Blickes scharfe Sehe.

Sind es Zelten des Vesires
Die er lieben Frauen baute?
Sind es Teppiche des Festes
Weil er sich der Liebsten traute?

Roth und weiß, gemischt, gesprenkelt
Wüßt‘ ich schönres nicht zu schauen;
Doch wie Hafis kommt dein Schiras
Auf des Nordens trübe Gauen?
Ja es sind die bunten Mohne,
Die sich nachbarlich erstrecken,
Und, dem Kriegesgott zum Hohne,
Felder streifweis freundlich decken.

Möge stets so der Gescheute
Nutzend Blumenzierde pflegen,
Und ein Sonnenschein, wie heute,
Klären sie auf meinen Wegen!

„Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“, so beginnt unscheinbar ein kleines Goethe-Gedicht. Von außen entfalten sie ihre Farbigkeit beim Blick vom Dunklen ins Helle. Je nach Alter, je nach innerer Verfassung wechseln die Blicke des Literaturfreundes. Mein Beispiel stammt aus dem „West-östlichen Divan“, der mir besonders nahe ist. Goethe hat das Gedicht auf der Reise nach Frankfurt an einem frühen Sommermorgen in Erfurt geschrieben, als der Morgennebel sich zerteilte und den Blick auf die Erfurter Blumenfelder freigab. Warum gefällt mir dieses Gedicht? Die zunächst nur verschwommen vom Dichter wahrgenommenen Blumenfelder wecken Assoziationen, wie sie durch die Lektüre von Gedichten des persischen Dichters Hafis, geboren in Schiras, ausgelöst worden sind; Goethe hatte sie unmittelbar davor begeistert gelesen. Östliche und westliche Kultur werden in einen produktiven Zusammenhang gebracht. Wichtig ist mir in unseren unruhigen Zeiten auch der Appell am Schluss des Gedichts. Als Goethe seine Verse schrieb, stand der Frieden in Europa auf des Messers Schneide. Kultivierender Tätigkeit, dem Pflegen der „Blumenzierde“, kommt in den Augen des Dichters besondere Bedeutung zu, weil sie dem „Kriegesgott“ Widerpart bietet – damals wie heute. Schließlich noch ein Wort zur Sprache des Gedichts. Wir begegnen der Sprache eines hochbewussten Artisten, der – in der ersten Strophe – Morgennebel, dem Rhythmus gehorchend, durch „Morgennebelung“ ersetzt – und damit die Vorstellung wabernder Nebelschwaden hervorruft –, der das Substantiv „Sehe“ erfindet, was wir mit „Sehkraft, Sehschärfe“ übersetzen können. Wir beobachten in diesem Gedicht ein zuweilen übermütiges Spiel mit der Sprache. Mit zunehmenden Jahren wächst die Freude an diesem Spiel, beim damals 65-jährigen Goethe wie bei seinem heutigen Leser.

Im Mittelpunkt der nächsten Goethe Akademie werden „Die Wahlverwandtschaften“ stehen. Welche Akzente sind Ihnen in diesem Werk besonders wichtig?

Goethes Roman gehört zu jenen Texten der Weltliteratur, die man nicht oft genug lesen kann. Als junger Mensch wird man längst nicht aller Facetten gewahr werden, doch mit zunehmender Lebenserfahrung wächst das Verständnis für das komplexe Romangeschehen. Wo soll man anfangen, wo aufhören? Die „Wahlverwandtschaften“ sind ein Eheroman, jedoch mehr als das; in einer sozial präzis bezeichneten Konstellation werden Partnerbeziehungen auf den Prüfstand gestellt. Deren Fragilität gibt sich schon im Titel zu erkennen. ‚Wahl‘ enthält ein Element von Freiheit, ‚Verwandtschaft‘ ein Element von Notwendigkeit, das einerseits seine Verbindlichkeit aus dem Bereich des Menschlichen, andererseits aus der zeitgenössischen Naturwissenschaft gewinnt. In der unaufhebbaren Spannung von Freiheit und Notwendigkeit bewegt sich, sehr pauschal gesagt, das Romangeschehen, an dessen Ende eine, so finde ich, ironische Lösung gesetzt ist. Lebensfragen werden artikuliert, die auch die unsrigen sind. In der nächsten Goethe Akademie sollen sie zur Sprache gebracht werden.

In den zurückliegenden Monaten fanden Klassiker wie Camus‘ „Pest“ oder auch Manns „Zauberberg“ wieder regen Zuspruch. Welches Werk Goethes empfehlen Sie gerne zur Lektüre?

Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ sind bereits als passende Lektüre in Corona-Zeiten empfohlen worden. Dem möchte ich nicht widersprechen, nutze aber gern die Gelegenheit, um für meine gegenwärtige Lieblingslektüre zu werben, Goethes Gedichtbuch „West-östlicher Divan“. Wenn das Geschehen um Corona zurücktritt, werden wir wieder den Blick freimachen können für Fragen, die aktuell zurückgedrängt worden sind, für soziale Befriedung, für wechselseitige kulturelle Anerkennung. Goethe kann uns dazu Orientierung geben.

Zur Person
Professor Dr. Jochen Golz war von 1994 bis zu seinem Ruhestand 2007 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs der Klassik Stiftung Weimar. Er legte zahlreiche Publikationen zu Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Jean Paul vor und gab die historisch-kritische Ausgabe von Goethes Tagebüchern heraus. Nach 20-jähriger Präsidentschaft ist er seit 2019 Vizepräsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar. Mit rund 2.400 Mitgliedern ist sie weltweit die größte literarische Gesellschaft.

Beitragsbilder:

Goethe- und Schiller-Archiv, Blick von der Petersen-Bibliothek in den Mittelsaal, Foto: Thomas Müller, © Klassik Stiftung Weimar
Goethe (Ölgemälde von Joseph Karl Stieler, 1828, gemeinfrei)
Buchcover „Die Wahlverwandtschaft“, Insel Taschenbuch, Déjeuner sur l’herbe, Claude Monet, gemeinfrei
Prof. Dr. Jochen Golz (Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V.)

Titelbild:
Goethe-Schiller-Denkmal Weimar, Theaterplatz, Weimar (Dr. Bernd Gross / CC BY-SA 3.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

24. Juni 2020 || ein Interview mit Professor Dr. Jochen Golz

 

Professor Dr. Jochen Golz