Die Sehnsucht nach einer Insel – Zum Roman Tristan da Cunha von Raoul Schrott

„Welche Bücher nehmen Sie auf die einsame Insel mit?“ – „Wen würden Sie zu sich auf eine einsame Insel einladen?“ – Fragen, die zum Standardrepertoire eines Interviews gehören. In ihnen spiegelt sich zweierlei wider: Zum einen, dass letztlich jeder davon träumt, für eine längere Zeit auf einer Insel zu verschwinden, dem Alltag Lebewohl zu sagen, gleichsam eingebettet in der Natur ein irgendwie echtes und authentisches Leben zu führen. Jedenfalls ein andere Leben als das unsrige, mit Systemzwängen und gegenwärtig sogar „systemrelevanten“ Personen (die von ihrer Systemrelevanz in monetärer Hinsicht allerdings erstaunlich wenig mitbekommen!).

Zweitens spiegelt sich darin die Vorstellung wider, dass Inseln irgendwie ganz besondere Orte sind, der Welt enthoben, fern. Keine Frage, heute sind fast alle Inseln sind mit dem Flieger oder wenigstens dem Kreuzfahrtschiff erreichbar, aber ihr Besuch ist eben doch mit einem anderen Reiz verbunden als der einer x-beliebigen europäischen Metropole. Vermutlich sind es genau diese Erfahrungen von Abgeschiedenheit, von Abgeschlossenheit, von Autarkie und von fehlenden räumlichen Verbindungen zum „Festland“, die diesen Reiz der Insel als einer Sonderwelt ausmachen. Einfach weg sein und sein eigenes Ding machen – das ist der wahre insulare Spirit!

Es ist deshalb kein Wunder, dass Thomas Morus seine berühmte Insel Utopia genannt hat, U-Topos also, was sich vom Griechischen her als Nicht-Ort übersetzen lässt. Morus weiß: Die Gesellschaft, die er seine Insel bewohnen lässt, ist eine, die in der Wirklichkeit überhaupt nicht existieren kann und wohl besser auch nicht sollte – ein Punkt, den viele Utopisten bis heute nicht wahrhaben wollen. Seine Insel ist wie andere berühmte Inseln – zu nennen wäre Atlantis oder auch das Eiland, auf das es Robinson verschlägt – ein Ort und ein Nicht-Ort zugleich. Nicht immer geographisch eindeutig einem Längen- und Breitengrad zuortbar, vielleicht nicht einmal existent – aber das ist auch gar nicht notwendig, weil die menschliche Vorstellungskraft bekanntermaßen keine real existierende Insel braucht, um eine perfekte zu imaginieren (siehe hierzu den Streit um den ontologischen Gottesbeweis zwischen Anselm von Canterbury und dem Mönch Gaunilo von Marmoutiers – Inseln haben also sogar eine herausragend theologische Qualität!).

Ziel von Sehnsüchten und Quelle von Inspirationen, Heimat der Utopie wie auch – das wurde bislang vergessen – Ort handfester strategischer Interessen – die Insel ist bei Lichte besehen ein klassischer und moderner Mythos zugleich. Mit diesen ganzen Vorstellungswelten spielt nun aber auf herausragende Weise der österreichische Autor und Professor für Literaturwissenschaft Raoul Schrott in seinem im Jahr 2003 veröffentlichten Roman „Tristan da Cunha“. Dieser handelt von der gleichnamigen Insel vulkanischen Ursprungs im Südatlantik, die laut Wikipedia als die abgelegenste bewohnte Insel der Welt gilt. Hier leben, Stand 2017, 270 Einwohner im einzigen Ort Edinburgh of the Seven Seas. In wunderbarer, bildreicher Sprache (der Autor ist auch als Übersetzer klassischer griechischer Literatur hervorgetreten) verfolgt Schrott verschiedene Personen aus verschiedenen Jahrhunderten und ihre Perspektiven auf die Insel bzw. auf die dort lebenden Personen. Inselgeschichte verknüpft sich mit Familiengeschichte, historische Momente spiegeln sich in persönlichen Schicksalsmomenten wider. Besonders reizvoll ist dabei der Kontrast zwischen den jeweiligen inselmythologischen Bildern im Kopf und der Erfahrung der rauen insularen Wirklichkeit, die aus Landwirtschaft, Robbenfang, Hunger und einem Mangel an allem, was anderswo die Grundlagen der Zivilisation genannt wird, besteht. Der Aufbau des Buches ist dabei durchaus postmodern zu nennen: Verschiedene Akteure und Sprecher wechseln sich ab, was angesichts des facettenreichen und gerade nicht eindeutigen Blicks auf die Insel ein durchaus passendes Gestaltungs- und Stilmittel ist, aber vielleicht auch einige abschrecken mag.

Das Buch sei hiermit ausdrücklich zur Lektüre auf der einsamen Insel empfohlen, auch wenn damit in gewisser Weise Paradoxes ausgesagt wird: Macht es doch gerade deutlich, dass Inseln zwar hübsche Vorstellungsräume sein mögen – wir aber doch ganz froh sein dürfen, nicht auf einer realen Insel verweilen zu müssen sondern in unseren eigentlich doch recht angenehmen mitteleuropäischen Studierstuben.

Wenn Sie doch (bald) die Reiselust packt: Das Bild zeigt Tristan da Cunha aus der Satellitenperspektive. Abhängig von den äußeren Bedingungen kann die Fahrt auf die Insel zwischen fünf und 15 Tage dauern. Im Jahr gibt es etwa zehn geplante Verbindungen zur Insel. Viel Freude bei der Überfahrt. Über eine Postkarte freue ich mich!

17. April 2020 || empfohlen von Dr. Michael Hartlieb, Akademiereferent Theologie und Philosophie