Systemische Ursachen und persönliche Verantwortung

Bringt Frucht hervor, die eure Umkehr zeigt.
Mt. 3,8

Gerade haben wir die Auferstehung des Herrn gefeiert. Ostern voraus geht eine 40-tägige Fastenzeit, die zur Umkehr und Buße aufruft. Genau in dieser Zeitspanne veröffentlichte das Erzbistum Köln die Missbrauchsstudie der Kanzlei Gercke I Wollschläger. Gleichzeitig konnte die nichtveröffentlichte Studie der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) von Betroffenen und weiteren Interessierten eingesehen werden. In beiden Studien zeigt sich, es gibt für sehr Vieles in der Vergangenheit Buße zu tun. Auch wird deutlich, dass eine umfassende systematische Aufarbeitung in allen deutschen Bistümern erforderlich und längst überfällig ist.

Wurde in den letzten Jahre viel in die Präventionsarbeit investiert, geben die Studien nun den Aufschlag, persönliches Versagen in der Vergangenheit sowie systemische Ursachen aufzuzeigen und daraus für die Kirche von morgen zu lernen. Die ersten Schritte sind in unserem Erzbistum jetzt getan, es wurden Verantwortliche genannt und freigestellt sowie konkrete Schritte für verschiedene Arbeitsbereiche benannt. Weitere sollen und müssen noch folgen.

Hier finden Sie den 8-Punkte-Plan für verbesserten Schutz vor sexualisierter Gewalt.

Viel wird in den Medien über die „bessere“ der beiden Studien diskutiert. Die Studie der Kanzlei Gercke I Wollschläger wird von vielen Seiten als zu juristisch und nüchtern (de)klassiert, sie würde die systemischen Ursachen der Institution Kirche nicht benennen. Nach Durchsicht beider Studien zeigt sich mir, dass sie in ihren Empfehlungen gar nicht so weit auseinander liegen, auch wenn sich ihr Ansatz und ihr Sprachduktus sehr unterscheiden. So fordern beide u.a. Gewährleistung einer unabhängigen Aufarbeitung, Professionalisierung, Fortbildungen, standardisierte Bearbeitungsprozesse, bessere Aktenführung, Betroffenenfür- und -nachsorge, bessere Kontrollen der Auflagen für die Täter sowie eine Weiterentwicklung des Kirchenrechts. Selbst oft strittige Punkte finden sich in beiden: die Wichtigkeit von Gewaltenteilung, die bisher mangelnde Zuwendung zu und Empathie mit den Betroffenen bei gleichzeitiger „Barmherzigkeit“ für die Täter sowie ein oft überhöhtes priesterliches Selbstverständnis, das einhergeht mit (männer)bündischer (Mit)Brüderlichkeit.

Von all den Maßnahmen, die die Verantwortungsträger der Kirche nun umsetzen wollen bzw. müssen, treiben mich aktuell zwei Dinge besonders um:
Wie kann Betroffenen Gerechtigkeit – auch nach so langer Zeit – wiederfahren? Oft wurde Verzicht (auf sein Amt/seine Aufgabe) statt Strafe praktiziert. Man glaubte, das Ergebnis sei das Gleiche. Es lässt aber das Leid des/der Betroffenen außen vor. Gerechtigkeit herzustellen durch notwendige Aufarbeitung des Geschehenen und Anerkennung des persönlichen Leids und der eigenen Lebensgeschichte muss Eingang in die kirchliche Praxis finden und der Umgang mit Priestern als Täter muss genau so konsequent sein wie es bei Laien schon praktiziert wurde.

Der Vorsitzende des Diözesanrates der Katholiken im Erzbistum Köln, Tim Kurzbach, hat mehrmals noch vor der Veröffentlichung des Gutachtens „die Geistlichen aus der ersten Reihe“ dazu aufgerufen, unabhängig von einem Gutachten offen und ehrlich ihr Gewissen zu prüfen, wie sie mit Missbrauchstätern umgegangen und wo sie schuldig geworden sind, und nicht darauf zu warten, bis ein Gutachter ihre Fehler feststellt. Nichts ist passiert! Scheinbar glauben viele immer noch, sie kämen mit Stillhalten davon oder sie könnten ihre Verfehlungen bzw. Pflichtverletzungen im stillen Kämmerlein oder in der Beichte mit Gott aushandeln. Bei allem sakramentalem Verständnis der Beichte, die Betroffenen benötigen öffentliche Verantwortungsübernahme, damit sie sehen, dass ihnen endlich geglaubt wird, dass die Handlungen der Täter und derjenigen, die ihnen nicht Recht verschafft oder gar Missbrauch weiter ermöglicht haben, Folgen hat. Auch die Gläubigen in unserer Kirche verlangen nach Wahrhaftigkeit.

Spätestens jetzt nach der Kölner Studie, die sehr klar aufzeigt, was wer hätte tun müssen bzw., was als Pflichtverletzung zu werten ist, kann endgültig niemand mehr sagen, das sei ihm nicht bewusst gewesen. Und wer bezüglich der Einordnung seiner Arbeit in der Vergangenheit unsicher ist, hole sich bitte professionelle Hilfe außerhalb der Kirche, um sich und seine Arbeit zu reflektieren.

Auferstehung und Neuanfang können nur mit Reue und einem ehrlichen Willen zur Umkehr gelingen.

9. April 2021 || ein Kommentar von Andreas Hoffmeier, Akademiedirektorin