Zum 250. Geburtstag Hölderlins: ein Essay von Stefan Zweig

Blick auf den „Hölderlinturm“ in Tübingen

In diesen Zeiten sieht man sich vielfach auf häusliche Ressourcen und damit auch auf die heimischen Bücherregale beschränkt. Auch ich sichtete in Anbetracht der geschlossenen Bibliotheken die eigenen Bestände, denn ich wollte Hölderlins Geburtstag still begehen. Am besten mit Gedichten. Und welcher Dichter passt besser in diese aktuelle Zeit als Hölderlin, der 36 Jahre seines Lebens in einem stillen Turmzimmer in Tübingen verbrachte?

Ich stieß nicht nur auf eine ererbte „Feldauswahl“, erschienen „im Auftrag der Hölderlin-Gesellschaft und des Hauptkulturamtes der NSDAP“, sondern auch auf einen Essay über den Dichter, den Stefan Zweig vor fast einem Jahrhundert verfasst hat. Diese biographisch-psychologische Skizze ist in dem Band Der Kampf mit dem Dämon – Hölderlin · Kleist · Nietzsche von 1925 enthalten. Es handelt sich hierbei um den zweiten Teil der dreiteiligen Essayreihe Baumeister der Welt, in der Zweig neben den genannten deutschen Autoren auch Balzac, Dickens und Dostojewski sowie Casanova, Stendhal und Tolstoi würdigte.

Den etwas merkwürdigen Titel Der Kampf mit dem Dämon erläutert Zweig in seiner Einleitung: „Dämonisch nenne ich die ursprünglich und wesenhaft jedem Menschen eingeborene Unruhe, die ihn aus sich selbst heraus, über sich selbst hinaus ins Unendliche, ins Elementarische treibt, gleichsam als hätte die Natur von ihrem einstigen Chaos ein unveräußerliches unruhiges Teil in jeder einzelnen Seele zurückgelassen, das mit Spannung und Leidenschaft zurück will in das übermenschliche, übersinnliche Element. Der Dämon verkörpert in uns den Gärungsstoff, das aufquellende, quälende, spannende Ferment, das zu allem Gefährlichen, zu Übermaß, Ekstase, Selbstentäußerung, Selbstvernichtung das sonst ruhige Sein drängt“.

Zweig möchte also nicht die Biographie Hölderlins nacherzählen, nicht seine Gedichte analysieren. Dem „Psychologen aus Leidenschaft“, wie Zweig sich selbst nennt, geht es um die Seele des Dichters. So erstaunt es auch kaum, dass der Autor sein Buch Sigmund Freud widmete: „Professor Dr. Sigmund Freud / dem eindringenden Geiste, dem anregenden Gestalter / diesen Dreiklang bildnerischen Bemühens“. Seit 1908, nachdem Zweig dem verehrten Psychoanalytiker eines seiner Werke zugesandt hatte, entspann sich eine Korrespondenz. Die sich entwickelnde Freundschaft endete mit der Rede, die Zweig 1939 am Sarge Freuds in London hielt: „Dank für die Welten, die Du uns erschlossen […] Du kostbarer Freund, Du geliebtester Meister.“

Zweig interessiert sich allein für die psychische Konstitution Hölderlins. Seine schwäbische Herkunft, den frommen Drill in den evangelischen Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn sowie später im Tübinger Stift beschreibt er einfühlsam. „Hier also, so früh schon, im Zwielicht der Kindheit, in den entscheidenden Formungsjahren beginnt jener unheilbare Riß in Hölderlins Innern, jene unbarmherzige Zäsur zwischen der Welt und seiner eigenen Welt […] Schon der Unmündige sperrt sich gegen jeden Zustrom von Erlebnis feindlich ab: Zurück und empor sind die einzigen Zielrichtungen seiner Seele, niemals zieht sein Wille ins Leben hinein, immer darüber hinaus. Er kennt und will kein Verbundensein mit der Zeit kennen.“

Blick über den Neckar auf Tübingen

Blick über den Neckar auf Tübingen

Für Zweig ist diese „Unverbundenheit mit der Welt“ die Quelle der reinen Dichtung Hölderlins. Seine Hymnen sind ohne Lebensbezüge, gewissermaßen abstrakt, und dadurch zeit- und ortlos. „Niemals in der deutschen Literatur war das Gedicht vor ihm oder nach ihm so durchaus flughaft, so aufgehoben über die Erde: wie aus einer geistiges Vogelschau, immer also von oben sind die Dinge gesehen, aus jenem heiligen Oben, dem Hölderlin mit der brennenden Triebkraft seines Gefühls schwärmerisch entgegenstrebt. […] Niemals hat Hölderlin (das ist seine Größe und seine Beschränkung) die Welt sehen gelernt. Er hat sie immer nur gedichtet. Er ist nie ein Wissender geworden, ist immer Träumer geblieben, immer Schwärmer.“

Zweigs schöne Sprache wird in diesem Essay ungewohnt hymnisch, als habe er sich vom hohen Ton des Dichters mitreißen lassen. Wenn Sie neugierig geworden sind, wie das klingen mag, so darf ich Sie zu einer etwas gekürzten Lesung des Kapitels „Kindheit“ einladen:

Wer aber lieber den Dichter in Originaltexten kennenlernen möchte, dem sei die von Navid Kermani getroffene und von ihm mit einem Nachwort versehene Auswahl empfohlen: Friedrich Hölderlin: Bald sind wir aber Gesang. Eine Auswahl von Navid Kermani, München 2020 (C. H. Beck, 256 Seiten, 23 €).

Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Dämon – Hölderlin · Kleist · Nietzsche. Herausgegeben und mit einem Nachbemerkung versehen von Knut Beck. Ungekürzte Neuausgabe. Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, August 1998. Das Buch ist in neueren Auflagen lieferbar. Sie finden den Text auch hier online.

Technische Unterstützung bei der Tonaufnahme durch Martha Peters B. Sc.
Bilder: gemeinfrei

6. Mai 2020 || Beitrag von Dr. Elisabeth Peters, Kunsthistorikerin
„Literarische Spuren in der Stadt an der Seine“ stehen im Mittelpunkt einer geplanten Ferienakademie unter Leitung von Dr. Peters. (24. bis 28.10.2020).