Sieben Linden, dreißig Silberlinge. Wallfahrtsorte im Bergischen

16 Marienwallfahrtsorte gibt es allein im historischen Bergischen Land inklusive der ehemals märkischen Teile. Am bekanntesten dürfte Neviges mit der weltberühmten Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“ von Gottfried Böhm sein. Die ältesten Wallfahrten aber kennen Gummersbach-Marienheide und Overath-Marialinden. Die alljährlich ums Mariä-Heimsuchungsfest am 2. Juli anhebenden Pilgeroktaven stehen in 600-jähriger Tradition und ziehen immer noch mehrere Tausend Menschen an. Wir haben den Kunsthistoriker Markus Juraschek-Eckstein gebeten, einmal einen Blick auf die Ursprünge und Geschichte(n) dieser beiden Marienwallfahrtsorte im Bergischen Land zu werfen.

Sieben Linden, dreißig Silberlinge
Wallfahrt in Marienheide und Marialinden

Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung in Marialinden

Wie so oft, berichtet über den Anfang eine Legende: Ein Marienbildnis soll auf einer Aggerhöhe östlich von Overath in einer hohlen Linde gefunden worden sein. Nachdem der Finder es von dort mitnahm, kehrte es auf wundersame Weise wieder an seinen Platz zurück. Der Bau eines schützenden Heiligenhäuschens – vielleicht die heutige Sakristei der Mariä-Heimsuchungskirche in Marialinden – gab dem Bildnis eine erste Behausung. Eine Urkunde aus dem Jahre 1515 spricht von diesem Häuschen und vom „vor einigen Jahren“ erfolgten Bau einer Kapelle. Das ist der bestehende spätgotische Kirchenbau. Last not least habe sich der ursprünglich Sevenlingen („Siebenlinden“) benannte Ort zu Ehren der „gebenedeiten Mutter Maria“ auf „Marialinden“ umbenannt.


Was ist dran an der Geschichte?

Gnadenbild der Pietà (um 1500) in Marialinden

Möglicherweise mehr als aufs erste Hören oder Lesen zu vermuten. Tatsächlich gab es ein historisch nachweisbares Gehöft, keine Ortschaft, namens Sevenlingen ganz in der Nähe des Kirchenstandorts. Die Ausbildung der Ortschaft dürfte auch der Wallfahrt gefolgt sein, nicht umgekehrt. Der Name Sevenlingen könnte sich nun auf eine Geschichte der Lokalität der Wallfahrtskirche vor aller Überlieferung beziehen. Eine von sieben Linden soll es gewesen sein, in der die Muttergottesfigur gefunden wurde. Zahl und Baumart lassen aufhorchen. Heute noch kennzeichnen Lindenkreise in vielen Orten des Bergischen Landes und bis ins Sauerland aktive oder ehemalige Begräbnisplätze. Bensberg, Gummersbach, Hülsenbusch oder Wormbach seien nur als wenige Beispiele genannt. Wenn auch für den Standort Marialinden kein historischer Kirchhof nachweisbar ist – eine Pfarrerhebung fand erst 1857 statt – so könnten doch die Linden auf eine vormalige, nicht mehr nachvollziehbare kultische Bedeutung der Lokalität hinweisen. Die Siebenzahl findet zudem gerne Anwendung auf das Tagewerk der irdischen Schöpfung. Mit dem achten Tag der Schöpfung ist der Beginn des Gottesreichs gemeint. Er ist mit der Vorstellung vom Jüngsten Gericht und der Auferstehung der Toten verbunden. Insofern ergäben sieben Lindenbäume, zudem wenn sie tatsächlich einen Begräbnisplatz umstanden hätten, Sinn. Aber das ist alles Spekulation.

Deckengemälde im Chorraum der Kirche

Sicher ist, dass die spätgotische Kirche in Marialinden aus einer Stiftung der im Aggertal bei Overath einst in mehreren Sitzen hausenden Grafen von Bernsau hervorging. Größe und gestalterische Qualität des aus dem 15. Jahrhundert stammenden Kernbaus lassen allerdings eine höher reichende Stiftungsintention vermuten, als es der jeher bloß regionalen Bedeutung der Marialindener Wallfahrt entspräche. Zur Datierung des Kirchenbaus lassen sich unter anderem die Gewölbemalereien heranziehen. Während das Distelrankenwerk der Zeit der Beurkundung von 1515 entspricht, sind die vier Evangelistensymboltiere im Chorjochgewölbe stilistisch vielleicht schon dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts zuzuweisen. Solcher Frühdatierung entspräche die um 1400/1420 entstandene Terrakotta-Pietà, die im rechten Seitenschiff in einer kleinen Wandnische bewahrt wird. War dies das ursprüngliche Gnadenbild?

Chorjochgewölbe in Marialinden Das alte Gnadenbild?

Wenn ja, dann würde auch der Beginn der Marialindener Wallfahrt spätestens in dieser Zeit zu suchen sein. Dafür spricht nun wieder die Legende von der Auffindung des Gnadenbilds. In Bäumen aufgefundene oder in Bäumen aufgestellte Marienbildnisse kennen mehrere rheinische Überlieferungen des 15. Jahrhunderts, so der Bericht über die Gründung der Wallfahrt nach Mariawald auf dem Eifeler Kermeter oder die für das Jahr 1430 bezeugte Gründungsgeschichte der Wallfahrt zu Marienbaum bei Xanten.

Für die These, dass es sich bei der Statue von 1400/1420, und nicht beim heute verehrten Bildnis von etwa 1500 um das in der Legende erwähnte Gnadenbild handelt, spricht auch die Materialität. Terrakotta ist witterungsresistent. Das im Mittelalter selten verwendete plastische Material gäbe der Erzählung von der ursprünglichen Aufstellung des Bildes im Freien zusätzliche Plausibilität. Der Umstand, dass es sich beim Marienlindener Gnadenbild in beiden Fällen um eine Pietà, also um ein Bildnis Mariens mit ihrem toten Sohn Jesus handelt, lässt sogar den hypothetischen Kreis der Linden um einen möglicherweise durch diese gekennzeichneten früheren Bestattungsort schließen. Die anderen hier im Beitrag behandelten Bildnisse sind allesamt hölzerne Marienstatuen mit Kind. So auch das in Gummersbach-Marienheide.

Wallfahrtskirche St. Mariä Heimsuchung in Marienheide

Marienheides Geschichte klingt so: Der für das Jahr 1417 historisch verbürgte Einsiedler Henricus pilgerte nach Weisung der Gottesmutter von der damals märkischen Höhe ins Kunstzentrum Köln und erwarb dort für 30 Silberlinge (!) das heute noch in der Marienheider Heimsuchungskirche bewahrte Gnadenbild. Der „Judaslohn“, den Heinrich dafür berappte, könnte auf einen Bußgang des Klausners verweisen. Auf dem Heimweg durch das Land der Bergischen und Märkischen Grafen zurück in seine Klause habe das Holzbildwerk nun viele Wunder bewirkt, sodass sich dessen und Heinrichs Ruhm schnell verbreitete. In der Folge baute man ihnen eine erste, wohl hölzerne Kapelle. Doch schon 1420/1430 stiftete Landesherr Graf Gerhard von der Mark ein Dominikanerkloster nebst heute noch bestehender steinerner Kirche für die Betreuung der Pilger und ließ es mit Mönchen aus Soest besetzen. Aus der Einsiedelei auf unbewaldeter Höhe wurde so der Ort Marienheide, und all dies spricht für eine von Anfang an bestehende überregionale Bedeutung der hiesigen Wallfahrt.

Gnadenbild von Marienheide im barocken Altaraufbau

Der Geschichte um den Klausner Heinrich ist nun in vollem Umfang zu trauen. Berichte über private Stiftungen von volkstümlichen Gnadenbildern und damit auch der Gründung von Wallfahrten durch Laien sind im Rheinland ab dem frühen 15. Jahrhundert zu finden. In der spektakulären und folgenreichen Entführung (1501) der Anna-Hauptreliquie durch den Steinmetz Leonhard von Mainz nach Düren fand dies im 16. Jahrhundert eine von vielen Fortsetzungen. Zur Zeit der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges wurden weitere Stiftungen, nun wieder vermehrt von klerikaler und herrschaftlicher Seite initiiert. Hier sei nur an die von Maria Medici für den Kölner Frauenkarmel gestiftete Muttergottes von 1641 erinnert, welche die Medici aus dem Holz eines angeblich eine Mariengestalt tragenden Baumes bei Brüssel hatte schnitzen lassen.

Für die Annahme einer zeitparallelen Datierung der Wallfahrten in Marienheide und Marialinden ins frühe 15. Jahrhundert spricht auch, dass sich genau in dieser Zeit die im auslaufenden 14. Jahrhunderts entwickelte devotio moderna bereits in voller Ausbildung und Verbreitung befand. Diese neue, eben „moderne“ niederländisch/niederrheinisch-westfälische Frömmigkeitsbewegung sei hier nur ganz knapp als Aufwertung der individuellen Glaubenspraxis gegenüber der Glaubensübung unter Führung durch einen klerikalen Profi und dem äußeren Empfang der Sakramente charakterisiert. Auch dies vermag das vor 600 Jahren neu aufkommende Phänomen von Funden und Stiftungen von Gnadenbildern durch den „einfachen Mann“ und den Beginn von Volkswallfahrten in unserer Region zu erklären.

Bildnachweis:

Wallfahrtskirche Mariä Heimsuchung in Marialinden © Chris06 – CC0
Gnadenbild der Pietà (um 1500) in Marialinden © MoSchle CC BY-SA 4.0
Chorjochgewölbe in Marialinden – Das alte Gnadenbild? © Werner Pütz, Marialinden
Wallfahrtskirche St. Mariä Heimsuchung in Marienheide © Mrfinch commonswiki
Gnadenbild von Marienheide im barocken Altaraufbau © Markus Juraschek-Eckstein

2. Juli 2020 || ein Beitrag des Kunsthistorikers und Germanisten Markus Juraschek-Eckstein

Unter seiner Leitung ist auch die Ferienakademie zu den wunderbaren romanischen Wandmalereien in Kirchen Westfalens vom 21. bis 24. September 2020 geplant