Pestbruderschaft: ein würdevolles Begräbnis für jeden Menschen

Wenn wir heute von Bruderschaften lesen, kommen diese uns zuerst einmal sehr fremd vor. Doch die aktuelle Situation der Corona-Pandemie rückt diese Gemeinschaften wieder neu in den Blick des Interesses. Diese Bruderschaften waren Gemeinschaften von Männern (Schwesternschaften bezeichneten die Gemeinschaften von Frauen), die in Gemeinschaft wie Brüder zusammen lebten und ein geistliches oder auch sozial-caritatives Leben führten. Viele dieser Bruderschaften sind im Umfeld der verschiedenen Pestepidemien in Europa in großer Zahl entstanden. Sie kümmerten sich z.B. um den Schutz der Brunnen, die Pflege der Kranken oder auch um die Bestattung der Toten. Manche Gemeinschaften existieren bis heute und übernehmen immer noch Aufgaben, Menschen in Not zu helfen. Ein besonderes Zeugnis des Dienstes am Menschen übernimmt aktuell die Pestbruderschaft im nordfranzösischen Städtchen Béthune. Cornelius Stiegemann berichtet in katholisch.de von diesem beeindruckenden Zeugnis des Dienstes am Menschen.


Seit über 800 Jahren ihrem Gelöbnis treu
Pestbruderschaft trotzt Pandemie, um Corona-Tote zu bestatten

Ein würdevolles Begräbnis für jeden Menschen – im nordfranzösischen Städtchen Béthune führt eine mittelalterliche Bruderschaft seit Jahrhunderten den Auftrag eines Heiligen aus. In den Tagen der Pandemie erinnert ihre Arbeit an die Zeit ihrer Gründung.

Gemessenen Schrittes gehen die Männer durch die ansonsten menschenleeren Straßen der Kleinstadt. Zwischen sich, auf einem zweirädrigen Karren, transportieren sie einen Sarg. Ihr Ziel ist der Friedhof. Mit ihren Zweispitzen und langen schwarzen Mäntel wirken sie wie aus der Zeit gefallen. Doch für die Bewohner der nordfranzösischen Stadt Béthune sind sie ein gewohnter Anblick. Die Mitglieder der „Confrérie des Charitables de Saint-Eloy de Béthune“, kurz „Charitables“ genannt, sind hier eine Institution. Seit über 800 Jahren kümmert sich die „Bruderschaft der Barmherzigen des Heiligen Eligius von Béthune“ um die Toten der Region. Auf den ersten Blick scheint also alles wie immer. Doch dann fällt das klinische Weiß der Atemschutzmasken ins Auge, das sich vom Schwarz der Gewänder abhebt. Ein allzu deutliches Zeichen dafür, dass in diesem Jahr nichts ist wie sonst.

Frankreich ist von der Corona-Pandemie stark getroffen worden. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind bisher knapp 26.000 Menschen im Land an Covid-19 gestorben. Am 17. März wurde eine Ausgangssperre verhängt, ohne triftigen Grund darf kein Franzose mehr Haus oder Wohnung verlassen. Eine Beerdigung ist so ein triftiger Grund. Doch wer in diesen Tagen einen lieben Menschen verliert, muss weitreichende Einschränkungen hinnehmen. Aus Angst vor einer Ansteckung sargen die Bestattungsunternehmen die Toten vielerorts direkt ein oder bringen sie ins Krematorium. Begräbnisgottesdienste in Kirchen können nicht stattfinden, erlaubt sind religiöse Zeremonien am offenen Grab mit maximal 20 Personen – inklusive Geistlichem und Sargträgern.

Die Toten stapelten sich in den Straßen

„In diesen schweren Zeiten versuchen wir, für die Familien des Verstorbenen da zu sein“, sagt Robert Guénot. „Im Geiste der Solidarität und der Nächstenliebe begleiten wir sie, um ihnen Trost und Hilfe zu bieten.“ Der 72-jährige Guénot steht als „Prévôt“ (wörtlich „Probst“) den Charitables vor. „Wir sind uns des Risikos bewusst, aber unsere Bruderschaft wurde ja während einer Pestepidemie gegründet.“ Und in der Tat erinnert die aktuelle Situation an die Gründung der Charitables im Jahre 1188. Zu dieser Zeit wütete in Nordfrankreich die Pest. Im südwestlich von Lille gelegenen Béthune und den umliegenden Dörfern starben so viele Menschen, dass sich ihre Leichname in den Straßen gestapelt haben sollen. Aus Angst vor Ansteckung weigerten sich die Totengräber, sie zu bestatten.

Während das Volk in die Kirchen flüchtete, um dort das Ende der Seuche zu erflehen, verließen zwei Schmiede, Gautier aus Béthune und Germon aus dem benachbarten Beuvry, ihre Heimatorte. Sie trafen sich an einer Quelle, die die Grenze zwischen den beiden Städten markierte. Dort erschien ihnen der heilige Eligius, der in der Gegend hochverehrte Patron der Schmiede und Metallarbeiter. Der Heilige richtete einen Auftrag an sie: „Geht nach Béthune, bestattet die Toten und helft denen, die noch leben.“ Also sammelten die beiden Schmiede einige junge Männer um sich, und begannen damit, die Toten aus der Stadt zu bringen und zu begraben. Und wie durch ein Wunder verschwand die Pest nach kurzer Zeit.

In den Regionen Hauts-de-France, direkt an der belgischen Grenze, sowie in der Normandie und der Bretagne entstanden im Mittelalter Hunderte solcher barmherziger Bruderschaften oder Pestbruderschaften. Meist gründeten sie sich in Zeiten von Epidemien, ähnlich den Sebastiansbruderschaften im deutschen Sprachraum. Durch das häufige Wiederkehren der Krankheiten und den Hundertjährigen Krieg, der die drei Regionen über lange Zeit heimsuchte, verstetigte sich ihr Dienst, bis sie ihn auch in Friedenszeiten taten. Sie übernahmen den Trauerzug und die Bestattung für die Verstorbenen des Ortes – ohne Ansehen der Person und ihres Standes. Zusätzlich sammelten sie Spenden für karitative Zwecke, etwa die Versorgung Hinterbliebener. Die Charitables aus Béthune gehören zu den ältesten Bruderschaften, die ohne Unterbrechung bis heute existieren.

„Normalerweise begleiten wir ungefähr 200 Verstorbene pro Jahr auf ihrem letzten Weg von den religiösen Zeremonien in den verschiedenen Gotteshäusern zum Friedhof“, sagt Guénot. Anders als in Deutschland wird dieser Dienst in Frankreich nämlich nicht von den Bestattungsunternehmen übernommen. Er muss zusätzlich organisiert werden und kostet zwischen 200 und 300 Euro. Die Bruderschaft der Barmherzigen übernimmt dies vollkommen kostenfrei. Und auch in Zeiten der Pandemie bleibe ihre Rolle die gleiche. „Die Trauerfeiern sind zurzeit zwar verschoben oder müssen sogar ganz ausfallen, und Kremationen finden hinter verschlossenen Türen statt. Aber wir sind trotzdem da, um die Särge zu den Familiengräbern zu transportieren“, sagt Guénot.

Seit Jahrhunderten nach dem gleichen Ritual

In Zeiten der Krise sind die Charitables aufgrund ihres Gelöbnisses oft die einzigen, die einem verstorbenen Obdachlosen oder einem Toten, dessen Familie aus Angst vor eine Ansteckung nicht zur Bestattung kommt, einen würdevollen letzten Gang bereiten. Und seit Jahrhunderten tun sie das nach dem immergleichen Ritual. Die Brüder bringen den Sarg von der Leichenhalle oder die Urne vom Krematorium zum Friedhof, lassen ihn im Anschluss an die religiöse Zeremonie dort ins Grab hinab. Dann treten sie einen Schritt zurück, nehmen ihre Zweispitze ab und sagen im Chor: „Requiescat in Pace“ („Ruhe in Frieden“).

Die Brüder achten penibel auf einen ehrenvollen Ablauf der Bestattung. Außerhalb der Friedhöfe der Region findet man einen mit weißer Farbe oder weißen Steinen markierten Kreis. Dort treffen sich die Brüder nach der Bestattung. Der Prévôt oder sein Repräsentant dankt dann den Brüdern für ihren Dienst. Ist einem der Brüder ein Fehler unterlaufen, hat er beispielsweise den Hut zum falschen Zeitpunkt abgenommen oder keine schwarzen Socken getragen, muss er eine symbolische Strafe zahlen.

Doch die Pandemie zwingt die Brüder zur Anpassung ihrer jahrhundertealten Rituale. „Wir haben unsere Aktivitäten reduziert, auch weil es keine religiösen Zeremonien mehr gibt“, sagt Guénot. „Wir sind jetzt nur noch zu fünft, im Gegensatz zu den sonst üblichen elf Brüdern bei einer Beerdigung.“ Man versuche sich so gut es eben gehe zu schützen, sagt auch Mitbruder Patrick Tijeras. „Jeder, der sich unwohl fühlt, sagt seinen Dienst selbstverständlich ab. Man darf da kein Risiko eingehen.“ Dass sie ihren Dienst komplett einstellen, kommt für die Brüder aber nicht in Frage. Gerade in diesen Tagen komme ihnen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu. „Genau wie ein Kranker das Recht auf Behandlung hat, hat ein Toter das Recht auf eine würdevolle Bestattung“, betont Tijeras.

Tote bestatten – für die mittelalterlichen Charitables ein Werk der Barmherzigkeit. Heute werden die die Mitbrüder dazu angehalten, nicht über „Religion und Politik“ zu sprechen. Stattdessen betont der Prévôt: „Wir sind eine gemeinnützige Organisation, was wir tun geschieht umsonst und ohne Ansehen der Religion. Wir haben Muslime, Zeugen Jehovas, Evangelikale, Christen und Atheisten bestattet.“ Bei vielen anderen Bruderschaften waren Entchristianisierung oder Auflösung der Französischen Revolution geschuldet, aber in Béthune ist ausgerechnet die Kirche selbst für die Säkularisierung verantwortlich.

Ein kontrollwütiger Bischof gegen eine stolze Bruderschaft

Während der Revolution setzten die Brüder ihren Dienst im Geheimen weiter fort. Erst Napoleon Bonaparte erlaubte sie mit dem Konkordat von 1802 wieder. Aus Dankbarkeit dafür sollen die Charitables den schwarzen Dreispitz ihrer „Dienstkleidung“ durch einen napoleonischen Zweispitz ersetzt haben. Während die Bruderschaft also ihrem christlichen Gelöbnis treu blieb, wurde sie ausgerechnet von der Amtskirche misstrauisch beäugt. Mitte des 19. Jahrhunderts trieb es der Bischof von Arras dann zu weit: Er verlangte, dass sich die Laienbruderschaft ganz der Kirche unterstellt. Die Brüder zogen es vor, unabhängig zu bleiben und erklärten sich für säkular. Seit den Laizitätsgesetzen von 1905 sind sie ein gemeinnütziger Verein.

Ironischerweise könnte ihr Verhältnis zur Kirche seitdem kaum besser sein. Jedes Jahr pilgert die ganze Bruderschaft mit der Reliquienbüste ihres Schutzpatrons in den Park von Beuvry, in dem sich die Quelle befindet, an der sich die zwei Schmiede getroffen haben sollen. Bis Ende des letzten Jahrhunderts sprudelte hier tatsächlich auch noch Wasser. Und während das Wasser versiegt ist, ist es der Zustrom an neuen Mitbrüdern keinesfalls. In den 1970er Jahren stand die Bruderschaft kurz vor ihrer Auflösung, sie hatte weniger als zwölf Mitglieder. Doch dann gab es ein Umdenken unter den Bewohnern der Kleinstadt. Weder konnten sie eine der ältesten Pestbruderschaften Frankreichs untergehen lassen, noch das ehrenvolle Gelübde ihrer Vorgänger brechen. Mittlerweile tun 40 bis 50 Männer aus allen Schichten ihren Dienst – auch in der Corona-Krise.

Vielleicht vertraut der eine oder andere von ihnen dabei auch heute noch auf den Schutz ihres Patrons. Der heilige Eligius soll den beiden Schmieden Gautier und Germon nämlich versichert haben: „Die Pest wird nicht in Eure Nähe kommen, nicht einmal in Eure Häuser!“ Und in den 832 Jahren ihres Bestehens soll sich kein einziger der Charitables mit einer Krankheit infiziert haben. So sieht man auch in diesen Tagen Männer in schwarzen Mänteln und Zweispitzen gemessenen Schrittes den Weg zum Friedhof einschlagen, um einem an Covid-19 verstorbenen Menschen die letzte Ehre zu erweisen.

Cornelius Stiegemann, aus: katholisch.de, 9.5.2020

Bild: Kirchenfenster aus der Kirche Saint-Vaast in der nordfranzösischen Stadt Béthune mit einem Bild der Pestbruderschaft. In der Kirche ist die Reliquienbüste des heiligen Eligius verwahrt, die die Charitables jedes Jahr bei ihrer Prozession mitführen. (Serge Ottaviani, Wikipedia, CC-BY-SA-3.0)

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