Was macht eigentlich in diesen Tagen … Matthias Franze in Spanien?

Lieber Matthias, seit einigen Wochen bist Du mit Deiner Familie zurück in Deiner Wahlheimat Arcos de la Frontera. Wie war es für Dich – nach zwei Monaten Exil auf Gran Canaria – wieder in Andalusien anzukommen?
Ich habe im Laufe der Jahre verinnerlicht, dass ein jegliches seine Zeit hat. Durch die ungeplante Verlängerung meines Aufenthaltes auf Gran Canaria – meine Reisegruppe wurde vier Tage vor dem offiziellen Ende der Tour repatriiert – haben meine Frau und ich die entspannte Zeit im Hause meiner Schwiegermutter sehr genossen, fast wie im Urlaub, zumal eine sofortige Rückreise weder möglich noch notwendig war.
Dass innerhalb von zwei Wochen alle weitere Reisen bis Ende Juli abgesagt wurden, hätte mich eigentlich beunruhigen sollen, denn die verordnete Arbeitslosigkeit kam aus heiterem Himmel und hat die Finanzplanung des Jahres verständlicherweise sozusagen völlig über den Haufen geworfen, aber tatsächlich war das Gegenteil der Fall, denn ich machte fast ohne eigenes Zutun den Sinnspruch „Wenn eine Tür sich schließt, öffnet sich eine andere“ zu meinem Leitsatz. Voller Vertrauen und relativ entspannt frage ich mich nun, welche es wohl sein wird.

Nach einer Reise nach Hause zu kommen, ist immer schön und der Gang in den eigenen Garten, der erleichterte Zugriff zu den Büchern, die schon lange zum ersten oder zweiten Mal gelesen werden möchten und die tiefsinnigen Gespräche mit unserem Sohn, der nach dem Ende seines Studiums die Ausgangssperre lieber mit uns als alleine in seiner Studentenbude verbringen möchte, macht viel Freude.

Wie nimmst Du in Arcos das alltägliche Leben wahr? Was erfreut Dich, was macht Dich nachdenklich?
Wir wohnen etwas abseits der Stadt und sind deshalb nicht direkt am Puls derjenigen, die in den engen Gassen der Altstadt leben. Lediglich beim Einkaufen merke ich, wie sehr man sich bemüht, die Umgangsformen zu verändern. Von ihrem Naturell her reden die meisten Andalusier ziemlich laut und viel, sie lieben den Humor, die Nähe untereinander und pflegen den körperlichen Kontakt beim Begrüßen und auch bei den Mahlzeiten. Man sieht, wie sie nun versuchen, sich in dieser Hinsicht unter Kontrolle zu halten, aber teilweise nur mit mäßigem Erfolg. Das erfüllt mich mit Genugtuung, denn Temperament, Lebensfreude und Fröhlichkeit lassen sich nicht in wenigen Monaten unterdrücken. Seit etwas mehr als einer Woche erlaubt der Gesetzgeber, dass viele Andalusier nun wieder ihrem sehnlichsten Wunsch nachgehen können, nämlich auf die Straßen zu gehen und ihre sozialen Kontakte zu pflegen. Noch nie habe ich so viele Menschen am frühen Abend ins Freie gehen sehen wie in den letzten Tagen – allerdings nicht immer mit dem vorgeschriebenen Abstand untereinander.
Mehr als nachdenklich macht mich das Auftreten einer Reihe von spanischen Politikern, die der Corona-Krise vor allem mit Profilierungssucht begegnen. Schon lange vermisse ich zudem bei den meisten Entscheidungsträgern die auf das Wohl der Menschen bezogene Dimension. Mir ist klar, wie schwer es ist, in solchen Zeiten zu den richtigen Beschlüssen zu kommen, aber meiner Einschätzung nach liegt unsere Gesundheitspolitik sowie die -versorgung schon seit langem im Argen, da sie auf einem unvollständigen Menschenbild aufbaut. Solange sich das nicht ändert, habe ich nicht viel Hoffnung auf Verbesserung.

Reiseleiter zu sein, bedeutet auch, viele Tage und Wochen des Jahres mit Gästen unterwegs zu sein, mit ihnen in sehr verschiedene Themen, Regionen und Situationen einzutauchen. Wie ist es für Dich, so abrupt, unfreiwillig und schon länger auf Begegnungen mit Gästen, aufs Reisen … zu verzichten?
Dass ich jetzt wieder zu Hause bin und auch bleiben muss, ist natürlich schon eine beträchtliche Veränderung, denn als Reiseleiter bin ich tatsächlich den größten Teil des Jahres en route und Ortswechsel mit ständigem Ein- und Auspacken gehören einfach zum Bestandteil meines Lebens. Das Wegfallen dieser „äußeren“ Umstände unseres Metiers hat freilich seine angenehmen Seiten, weil das Leben schlicht weniger anstrengend ist. Keinen 8-Stunden-Tag oder freie Wochenenden haben zu können, hat einfach seinen Preis, den meine Kolleginnen und Kollegen und ich immer wieder zu zahlen bereit sind. In den Momenten einer Auszeit wird deutlicher denn je, wie wichtig Ruhephasen sind und dass diese durchaus auch einmal etwas länger sein können. Ich persönlich empfinde das als einen Segen.
Die fehlende Begegnung mit Gästen, das Nicht-Reisen-Dürfen und der damit verbundene Mangel an äußeren Impulsen, also vor allem solchen, die von den Mitreisenden und, in geringerem Maße, auch von den Leistungsträgern kommen, wird in meinem Falle wettgemacht durch die Tatsache, dass ich mir jetzt mehr Zeit nehmen kann, mit und an mir selbst zu arbeiten. Mangel auf der einen wird durch Fülle auf der anderen Seite ausgeglichen. Mir ist der Zeitraum, in dem nun weniger körperliche, organisatorische und inhaltlich-akademische Anforderungen gestellt werden, höchst willkommen, da ich mich zurzeit auf einer Art inneren Entdeckungsreise befinde. Entspannung, Introspektion, Meditation, Kontemplation und Reflexion sind Aktivitäten, für die im herkömmlichen Berufsalltag kaum Zeit bleiben, und ich bin mir sicher, dass die Früchte dieser „Arbeit“ nicht nur mir selbst, sondern auch meinen zukünftigen Mitreisenden zugute kommen werden.

In den letzten Jahren klagte Spanien – vor allem Andalusien und Barcelona – über „Overtourism“. Ist jetzt vielleicht sogar der „Zero-Tourismus“ eine gute Erholungspause für die Monumente wie die Alhambra, die Sagrada Família, kleine Innenstädte…?
Das ist eine interessante Frage, die wahrscheinlich keiner so richtig beantworten kann. „Overtourismus“ gab es zweifelsohne. Aber ob Monumente oder Altstädte sich vom Massenandrang auf Dauer im Wortsinne erholen können, bezweifele ich, wenn dieser nämlich nicht nach und nach ersetzt wird durch ein wie auch immer zu definierendes „nachhaltiges Reisen“. Denn „Zero-Tourismus“ birgt natürlich die Gefahr der schrittweisen Verarmung und Marginalisierung bestimmter Gebiete. Ich bin überzeugt, dass der Nachhaltigkeit im Tourismus die Zukunft gehört. In den Bereichen Transportwesen, Ernährung, Hotelgewerbe, Urbanismus etc. sind bereits erste „grüne“ Maßnahmen getroffen worden, aber zumindest in Spanien steckt all dies noch in den Kinderschuhen. Auch bei der Ausbreitung des Corona-Virus, nach dem Dafürhalten vieler Experten ein multikausales Phänomen, ist gerade die Umweltverschmutzung einer der nicht zu unterschätzenden Faktoren. Der Vergleich der Satellitenfotos über Europa von Anfang Januar und Anfang März zeigt klar, dass Norditalien und der Großraum Madrid die höchsten Werte unseres Kontinents von Luftbelastung durch Stickstoffdioxide besitzt. Für mich ist das kein Zufall. Nun hoffe ich, dass die aktuelle Krise mit einem Motivationsschub einhergeht, der die verschiedenen Übel integral und an der Wurzel behandelt. Das ist die Herausforderung unserer Zeit und gleichzeitig eine große Chance.

Gibt es etwas, das Dir vielleicht gerade in dieser „Corona-Zeit“ besonders ans Herz gewachsen ist, das Dich stärkt?
Gerne nenne ich hier zwei Dinge, die mir Herzensnahrung geworden sind: eine poetische Reflexion sowie das Werk eines unbekannten Meisters aus der bildenden Kunst.
Eines meiner Lieblingsgedichte stammt aus dem Mathnawi, dem Hauptwerk von Djalal Ud-Din Rumi aus dem 13. Jahrhundert. Der Text lautet in der freien Version von Coleman Barks, die auf der englischen Übersetzung aus dem Persischen von R. Nicholson basiert, so:

Das Gasthaus

Dieses Menschsein ist ein Gasthaus
Jeden Morgen eine neue Ankunft.

Freude, Depression, Gemeinheiten,
und auch kurze Momente der Achtsamkeit kommen
wie unerwartete Besucher.
Heiße alle willkommen und bewirte sie!
Sogar wenn’s ein Haufen Sorgen sind,
die aus Deinem Haus brutal die Möbel hinausfegen,
behandle auch dann noch jeden Gast ehrenvoll.

Vielleicht reinigt er dich
für eine neue Wonne.

Der dunkle Gedanke, die Scham, die Bösartigkeit,
empfange sie mit einem Lachen an der Tür und bitte sie hinein.

Sei dankbar für was auch immer kommen mag,
denn alles ist geschickt worden
als Wegleitung für dich
aus einer anderen Welt.

Das Bild meiner Wahl stammt, wie gesagt, von einem unbekannten, aber genialen und vermutlich katalanischen Meister der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, der Blütezeit der Romanik. Dargestellt ist der Pantokrator in der Apsis der Kirche Sant Climent im Dorfe Tahüll.

Wenn Du wählen könntest: Wohin würde Dich Deine erste Studienreise nach der Corona-Zeit führen? Und warum?
Ohne jeglichen Zweifel würde ich eine Reise machen, bei der sich Kultur und Natur die Waage halten: beispielsweise auf dem Silberweg von Sevilla nach Madrid, auf der Nordroute entlang der Biskaya-Küste nach Santiago de Compostela oder auch in die Bergwelt der Pyrenäen in Katalonien. Hier in Spanien wurde uns während der letzten Monate nicht einmal erlaubt, alleine ins Grüne zu gehen. All diejenigen, die anders als ich keinen Garten oder nicht einmal einen Balkon haben, mussten eine schwere Zeit durchmachen. So sehr eine meiner Passionen sich den Museen, historischen Stätten und ihren Bauten verschreibt, so sehr liebe und sehne ich mich gerade jetzt nach Landschaft und Natur mit ihrer wohltuenden Wirkung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: Arcos de la Frontera, pixabay, gemeinfrei
Bild: Pantokrator in der Apsis der Kirche Sant Climent im Dorf Tahüll, gemeinfrei

20. Mai 2020 || ein Interview mit Matthias Franze, Studium der vergleichende Religions- und Islamwissenschaften, Indologie, Europäische und Orientalische Kunstgeschichte in Bonn, lebt seit 1990 in Andalusien, Arcos de la Frontera-Cadiz