Manhattan. Münster. Moondog.

Man könnte erwarten, dass jetzt, wo Konzertsäle und Opernhäuser geschlossen sind, die Stunde der Straßenmusiker schlägt. Aber auch für sie ist die Situation nicht einfach, weil in den Einkaufsstraßen oft das Publikum fehlt. Wer die Beschallung in den Innenstädten als Ärgernis empfindet, mag nun aufatmen. Man sollte jedoch genau hinhören: Mancher Straßenmusikant ist ein großer Künstler. Ganz sicher gilt dies für einen der wohl auffälligsten und rätselhaftesten Vertreter der Zunft: den Amerikaner Moondog.

Anfang der 1940er Jahre erschien an Manhattans Kreuzung von Sixth Avenue und 54. Straße ein hochgewachsener Mann mit Rauschebart und wallendem Haar. Er trug einen mittelalterlich anmutenden Umhang sowie einen gehörnten Wikinger-Helm und war mit einem Speer bewaffnet. In der Straßenschlucht spielte er seine Kompositionen auf selbstgebauten Instrumenten, las Gedichte und verwickelte die Passanten in Diskussionen. Die New Yorker ließen ihn gewähren, was vielleicht auch daran lag, dass der Wikinger blind war. Sein Augenlicht hatte der 1916 im ländlichen Kansas geborene Louis Thomas Hardin als 16-Jähriger bei einem Unfall verloren. An der Blindenschule schulte Hardin sein Gehör und lernte neben Klavier und Orgel auch Violine, Bratsche, Chorgesang und Harmonielehre. So blieb es nicht aus, dass in New York bald schon professionelle Musiker auf den sonderbaren „Kollegen“ aufmerksam wurden, der sich mittlerweile Moondog nannte. Mitglieder der New Yorker Philharmoniker machten ihn mit ihrem Dirigenten Artur Rodziński bekannt, der Moondog in die Carnegie Hall einlud. Auch Arturo Toscanini, Igor Strawinski und Leonard Bernstein lernte Moondog kennen. Es folgten erste Schallplattenaufnahmen und Auftritte mit so unterschiedlichen Künstlern wie dem Jazz-Musiker Charles Mingus, der Schauspielerin Julie Andrews und dem Beatnik-Dichter Allen Ginsberg.

Moondogs Kompositionen decken vom Kanon bis zur Symphonie eine Vielzahl von musikalischen Formen ab, bleiben aber stets berückend einfach. Er selbst bezeichnete sich als Klassizist und fühlte sich zeitlebens den strengen Regeln des Kontrapunkts verpflichtet. „Moondogs Musik ist singulär und zugleich allumfassend, ganz einfach und streng durchdacht“ urteilte Konrad Heidkamp in der ZEIT. Kein Wunder also, dass führende Vertreter der Minimal-Music wie Philip Glass und Steve Reich Moondog als Bruder im Geiste verehrten.

Ebenso plötzlich wie er dreißig Jahre zuvor erschienen war, verschwand Moondog Anfang der 1970er Jahre aus dem New Yorker Stadtbild. Manche vermuteten, der Musiker sei gestorben. Tatsächlich war Moondog aber auf Einladung des Hessischen Rundfunks für eine kleine Konzertreise nach Deutschland aufgebrochen. Beeindruckt von der Herzlichkeit der Deutschen entschied sich der amerikanische Gast, den Rest seines Lebens in Deutschland zu verbringen. Wie zuvor in New York, trat Moondog nun in Recklinghausen, Hannover und Hamburg als Straßenmusiker auf. Eine Studentin nahm sich seiner an und quartierte ihn in ihrem Elternhaus im westfälischen Oer-Erkenschwick ein. Hier komponierte Moondog bis zu seinem Tod im Jahr 1999 zahlreiche Werke.

Anlässlich von Moondogs 20. Todestag zeigt die Kunsthalle Münster derzeit die Ausstellung „Moon Machine, Landing“, in deren Zentrum eine als „interventionistische Musikmaschine“ bezeichnete Installation steht, die der Komponist Thies Mynther und der Theatermacher Veit Sprenger in Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Tobias Euler geschaffen haben. Leider ist auch diese Ausstellung derzeit nicht zu besuchen, aber in einem Interview mit dem Deutschlandfunk hat Thies Mynther einen Eindruck gegeben. Hören Sie hier hinein.

Bilder:
Midtown Manhattan. Foto von Zach Miles auf unsplash, gemeinfrei
Moondog (Louis Thomas Hardin) in Manhattan. Zeichnung von Ambra Galassi auf Flickr, gemeinfrei

16. April 2020 || Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR