Langeweile – eine Zumutung?

Keine Restaurantbesuche, keine Sportkurse, keine Feierlichkeiten und nur eingeschränkte Besuche von Freundinnen und Freunden. Früher oder später tun sich so neue, zuvor „gefüllte“, Zeitkorridore auf. – Oder auch nicht? Lassen wir die Leere, die Stille zu, oder sind wir nicht vielmehr damit bemüht, die gewonnene Zeit alternativ zu füllen – möglichst „sinnvoll zu nutzen“? Mir jedenfalls geht es so: „Langeweile? – Dazu habe ich keine Zeit!“. Stattdessen möchten wir lieber produktiv sein: aufräumen, heimwerkeln, nähen… Und wenn es mal nicht um Produktivität geht, dann doch wenigstens um Selbstoptimierung: einen Sprachkurs belegen, sich mit Yoga fit halten – selbstverständlich online.
Wann „gönnen“ wir uns wirklich einmal zur Ruhe zu kommen, leer zu werden, nicht schon den Gedanken zu verfallen, was man als nächstes tun oder planen kann? – Lieber gar nicht, denn es könnte unangenehm werden.

Warum die Aussicht darauf, Zeit nur für sich zu haben, so oft und gern erfolgreich umschifft wird, welches Potenzial in einer nicht gefüllten Zeit liegt und mit welcher Haltung es gelingen kann sich auf das Nichts einzulassen, dem geht der Theologe und Autor Pierre Stutz nach. Das Rundfunkinterview „Langeweile – eine mystische Übung“ erschien bereits im Juni 2020 im Radio SRF und wurde seinerzeit von meiner Kollegin Elisabeth Bremekamp und meinem Kollegen Dr. Matthias Lehnert empfohlen. Bei einer neuerlichen Ausstrahlung vor einigen Tagen bin ich nochmals aufmerksam geworden auf die Einladung und die „Anleitung“, die Pierre Stutz hier gibt.

Ohne Scheu benennt er was uns „Gewohnheitstieren“ Angst macht: Schon als Kind seien wir darauf konditioniert zu funktionieren, immer irgendeine Art von Leistung zu erbringen. Dieses Bestreben sitzt so tief, weil es letztlich um den Wunsch nach Anerkennung und Liebe geht. Von dieser Verknüpfung Leistung = Anerkennung abzusehen, sich zu fragen, was unser Menschsein außerdem ausmacht, fällt schwer, wie wir alle wissen.

„Langeweile? – Dazu habe ich keine Zeit!“
Pierre Stutz möchte dazu einladen aus dem Programm „keine Zeit“ auszusteigen und sich die Zeit zum Reflektieren, zum in sich Hineinhören zu nehmen – jetzt, wo es vielleicht mehr als sonst möglich ist. Dabei liegt das Paradox darin, dass der Schalter freilich nicht einfach umzudrehen ist. Der Plan, keinen Plan zu haben, lässt sich nicht in einen Plan zwängen; schließlich geht es um eine andere Zeitdimension. Ein Bewusstseinswandel brauche Jahre – und Übung. Vor allem Aber: Gelassenheit. Meditation kann kein Produkt einer Leistung sein!
So empfiehlt es sich denn klein, das heißt im Alltäglichen – und gerade dort – anzufangen. Das Essen, was ich zubereite, das Gemüse, was ich schneide, der Fußweg, den ich gehe – dies alles kann bewusster wahrgenommen werden. Und nicht nur das Außen, sondern auch das Innen. Die größte Herausforderung dabei ist wohl, gut mit sich selbst zu sein, sich anzunehmen, sich Zeit zu geben für Veränderungen. „Ich darf langweilig sein“, sagt Stutz und hebt dabei die Bedeutung wie auch die soziale und politische Dimension des einfachen Lebens hervor. Nur, wer sich selbst annehmen kann, kann auch ein Mitgefühl für andere entwickeln.

„Sei Du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst.“
Sich Zeit geben – das bedeutet auch, das Un-Erfüllte anzunehmen: Immer möchten wir alles haben, d.h. kontrollieren; dabei lehrt die Mystik, dass sich alles im Werden befindet. Unsere Beziehungen, zum Partner, zu Freunden, zu Gott … entziehen sich letztlich einer „Verfügbarkeit“. Das gelte es anzunehmen. Die Erfüllung könne sich dagegen nur in der Leere ereignen.
Auch und gerade, weil unsere Urangst nur darauf wartet, Leerstellen zu „besetzen“ lädt Pierre Stutz dazu ein, diese Angst nicht „wegzumeditieren“ oder zu bekämpfen – sondern in einen Dialog mit ihr zu treten und sie einfach nur wahrzunehmen, die Gefühle dabei sein zu lassen.

„Glücklich bin ich, wenn ich jeden Tag auch unglücklich sein kann.“
Doch woher die Kraft und den Mut für einen solchen Prozess aufbringen? – Aus der Gewissheit, nicht alleine zu sein, so Stutz – in dem Vertrauen und im Gefühl der Verbundenheit, dass sich das Göttliche im eigenen Gewahrwerden ereignet. Die „göttliche Spur“, sie liege darin wahrzunehmen, was ist, ohne Bewertung. Dieser Zugang zum Göttlichen sei nichts einigen „Begabten“ Vorbehaltenes, sondern jeder und jedem von uns möglich. Den Grund und den Schlüssel dazu sieht er in der uns allen gleichermaßen gegebenen Körperlichkeit; Spiritualität ist somit keine rein geistige Übung. Das Empfinden von Leere verbindet Stutz mit dem Körper; so kann gerade auch Bewegung Meditation sein. Für die mystische Übung der Langeweile brauche es sowohl den Mut sich auf das Nichts einzulassen als auch die Bereitschaft, sich inspirieren zu lassen.

Nehmen Sie die Einladung an, die gar nicht immer so bequeme Komfortzone zu verlassen, sich die Langeweile zuzumuten – und sie als Chance wahrzunehmen.

Den Podcast können Sie hier anhören.

Bildnachweis:

Sarner See (c) Christoph Baum

24. Januar 2021 || ein Beitrag von Anne-Katrin Kleinschmidt, Referentin für Erkundungen und Kulturformate

Pierre Stutz
Als Theologe, spiritueller Begleiter und Autor zahlreicher sehr erfolgreicher Bücher engagiert sich Pierre Stutz für eine engagierte Spiritualität. „Schreiben ist für mich ein ‚feu sacré‘, ein inneres Feuer. Meine Inspiration ziehe ich aus meinem persönlichen Hoffen und Ringen in der Gottessuche. Kraft bei dieser Suche geben mir poetische, mystische und biblische Texte, inspirierende Kinofilmmomente – und auch die Überzeugung, dass Spiritualität dazu da ist, zu befreien und nicht einzuengen. Erst wenn die spirituelle Dimension des Alltags erkannt ist, dann wird mein Leben kostbar.“