Krisen sind Chancen! Sind Krisen Chancen?

Für viele Menschen wirkt mein Leben wie eine Verkörperung ihrer geheimen Wünsche. Einsiedler leben in ihrer Vorstellung ja sozusagen einen Traum. Den Traum einer ungestörten Gottesbeziehung. Ohne Alltagsstress, ohne Termindruck, einfach in der Idylle einer romantischen Klause mitten im Grünen Zeit zu haben für Stille, Gebet und für Meditation. Für eine Gottesbeziehung ohne die Schwierigkeiten in Ehe, Familie, am Arbeitsplatz und / oder in der Pfarrgemeinde. Was wäre das schön, so zu leben. Es ist auch eine schöne Vorstellung – nur stimmt sie mit meinem Leben nur selten überein. Wenn jetzt durch die Coronapandemie allerorten von Ratlosigkeit bis Schock, von Trauer bis Angst die Menschen vieles stark belastet, kommen auch bei mir vermehrt Mails, Briefe und manchmal auch Gespräche (mit Abstand) an der Haustür an, die eines zeigen: Wir Menschen sehen eine Krise in der Regel als Problem, als Angriff auf unser gewohntes Leben, als Zerstörung all dessen, was uns doch eigentlich zusteht. Für mich war der lange Anweg zum Leben in der Einsiedelei nicht nur leicht, sondern stellte sich phasenweise wie eine Kette von kleinen und großen Krisen dar. Nicht nur, dass mein Vorhaben als Einsiedlerin im 20., bzw. jetzt 21. Jahrhundert zu leben auf Kopfschütteln stieß und auch jetzt noch ab und zu stößt – um es mal freundlich auszudrücken. Dieses Leben braucht auch bestimmte äußere Gegebenheiten, die im dicht besiedelten Deutschland nicht leicht zu finden sind. Aber es gab zu allen Zeiten und in allen schwierigen Situationen immer eine Leitspur, mein goldenes Seil, wie ich es einmal formuliert habe: Gottes Zusage an diese Welt und an mich, dass er immer und überall da sei und seine Hilfe anbietet. Wohlgemerkt: Seine Hilfe anbietet! Das heißt auch, ich muss auf ihn vertrauen, auf ihn und sein Wort hören und offen sein für die Wege und Möglichkeiten, die sich bieten; also offen sein für Gottes Krisenmanagement.

Mein Leben ist ein armes und einfaches Leben. Das Ideal von Franziskus und Klara von Assisi ist seit Beginn meines Weges immer Vorbild und Ansporn gewesen. Und sich diese Heiligen zum Vorbild zu nehmen, das holt einen immer wieder ein. Zurzeit ist der Brunnen der Klause versiegt, was die einzige Wasserversorgung hier ist. Die Weide für meine kleine Ziegenherde ist dabei erneut zu vertrocknen und alle Einnahmen, die ich im Sommer erwirtschafte durch Vorträge und Lesungen, sind aufgrund der Pandemie weg. Ersatzlos gestrichen. Kurzarbeitergeld für Einsiedlerinnen gibt es nicht, wir müssen unseren Lebensunterhalt selber erwirtschaften, das gehört zu diesem Leben dazu. Es ist eine echte Krise! Ich könnte mich nun in meine Kapelle setzen und beten. Natürlich tue ich das mehrmals am Tag. Aber es wäre nicht im Sinne des göttlichen Krisenmanagers, wenn ich da sitzen bliebe. Ich muss schauen, wie es in einer solchen Situation weitergehen kann. Kreativ werden mit göttlicher Hilfe. Ich glaube, dass genau das der innere Kern von Krisen ist. Egal, von welcher. Gott ist kein Deus ex machina. Also ein Theatergott, der in Krisensituationen plötzlich vom Bühnenhimmel schwebt und alle Probleme löst. Er hat uns, er hat mir viele Fähigkeiten geschenkt, die brach liegen, wenn alles gut und problemlos läuft. Wann brauchen wir Menschen schon alles das, wessen wir eigentlich fähig wären? Nur, wenn Krisen auftauchen. Ich glaube, vieles in unserem Land nehmen wir als selbstverständlich hin: die guten Lebensmittel zum günstigen Preis, die Kranken-Alters-Arbeitslosenversicherung, das klare Trinkwasser, die gute Luft, die schöne Landschaft und so vieles mehr. Corona hat sozusagen einen Stock in den Reifen unserer Selbstverständlichkeiten gesteckt. Dieser Stop war hart und tat vielen weh. Ich kann das gut nachvollziehen. Aber wenn Selbstverständliches plötzlich nicht mehr selbstverständlich ist, brauchen wir Kreativität.

Meine wirbelige Ziegenherde und ich gehen seitdem die Dürresommer sind, fast täglich eine Stunde spazieren. Ich genieße den Wald und sie fressen sich an den Brombeeren, dem Giersch und dem Efeu satt. Jetzt mähe ich noch zusätzlich mit der Sense am Wegrand alles ab. Wasser kommt in Kanistern von lieben Nachbarn und alles andere wird sich schon finden. Ich bete weiterhin in meiner Kapelle um Offenheit, um den Spürsinn, neue Wege zu sehen und Möglichkeiten zu erkennen. Ich bete und öffne mich auch für die Hindernisse in mir. Die Hindernisse, die mich verharren lassen in dem, was ich kenne. Die mich lähmen und blind machen für Neues, Ungewohntes oder auch für das, was ich bisher als unmöglich angesehen habe. Ich bete in dem Vertrauen, dass Gottes Heilszusage für diese Welt bedingungslos und ewig gültig ist. In diesem Vertrauen weiß ich: Jede Krise birgt in sich die Chance auf einen guten, auf einen besseren Neuanfang.

24. Mai 2020 || ein Beitrag von Maria Anna Leenen, die seit 25 Jahren  als Eremitin in einer kleinen Klause zwischen Ankum und Cloppenburg lebt. Aus ihrer Feder sind mittlerweile über 30 Bücher entstanden.

Alle Fotos: (c) Maria Anna Leenen