Faszinierende Glaubenszeugnisse: Kreuzsteine in Armenien

Armenische Kreuzsteine als Erinnerung der Auferstehung

Was im kaukasischen Georgien Wandmalereien in den Kirchen sind oder Ikonen in der griechischen Orthodoxie, stellen in Armenien die Kreuzsteine dar: Ausdruck einer theologischen Botschaft und ein Verweis – bildlich – auf die Auferstehung. Die nüchternen Kirchenräume in Armenien erfahren mit den Kreuzsteinen nahezu die einzige sichtbare Dekoration. Ihre Tradition reicht bis in das 5. Jahrhundert zurück, ihre Blütezeit liegt zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert. Für die einen waren es Steine, um feindliche Mächte abzuwehren, für die anderen die „biblia pauperum“, die Bibel für die Armen, weil auf den Kreuzsteinen die zentrale Aussage der Heiligen Schrift erzählt wird.

6. Mai 2020 || ein Beitrag von Matthias Kopp, Theologe, Archäologe, Journalist, Pressesprecher der Deutschen Bischofskonferenz seit 2009

Waren es am Anfang Steinblöcke mit einem Kreuzzeichen, entwickelten sich Kreuzsteine in der Geschichte Armeniens zu Monolithen mit einer Höhe von bis zu fünf Metern. Inschriften auf den Kreuzsteinen helfen zu verstehen, wozu sie genutzt wurden. Denn zuallererst waren sie auf Friedhöfen zu finden, dann auch als Dekor im Kirchenraum. So ist der Kreuzstein zunächst Ausdruck der Fürbitte für den Verstorbenen, manchmal erinnert er an ein Lebensschicksal oder auch nur an den Beruf, den der Verstorbene ausgeübt hat. Zentral wird in der weiteren Entwicklung die Botschaft des Kreuzestodes Christi und der Auferstehung. Karfreitag und Ostern werden hier in dichter Weise zusammengefasst. So ist der Kreuzstein – der Chatsch’khar – in Stein gehauene Theologie und Frohe Botschaft.

Kreuzstein, 16. Jh., ursprünglich aus Nachidschewan, heute im Innenhof des Patriarchats von Etchmiazin; Kreuzesdarstellung mit Stifter- oder Patriarchenfigur am linken unteren Rand in kniender Haltung

Kreuzstein 13. Jh., Ursprung unklar, heute im Innenhof des Patriarchats von Etchmiadzin: Deesis (Christus am Kreuz mit Maria und Johannes), im unteren Bereich wahrscheinlich Adam oder David als Urvater-Symbol; Tauben- und Löwenwesen mit Menschengesichtern im oberen Bereich

Auf den einfachen Steinen ist meist ein Kreuz mit kleineren, umgebenden Kreuzen abgebildet. Die aufwändig gearbeiteten Steine der hochmittelalterlichen Phase zeigen ganze Szenen aus dem Neuen Testament. Im Mittelpunkt steht immer das Kreuz auf einem stilisierten Golgotha-Hügel – inmitten von Akanthusblättern, Ranken und Flechtrahmen, mit Weinreben oder Wurzeln. Hier wird das Kreuz gleichsam als Lebensbaum abgebildet: Es erwächst aus einer Wurzel und prägt den gesamten Stein. Aus diesem Kreuz treten neue Ranken hervor: Der Stein wird zu einem lebendigen Abbild des Kreuzes. So verweist das Kreuz zwar auf den Tod Jesu, es verheißt aber zugleich neues Leben, das aus ihm erwächst. Gerade so sind die Rankenmotive oder die Lebensfülle zeigenden Einzelszenen Ausdruck lebendiger Hoffnung: Der Tod wird vom (neuen) Leben besiegt. Dieses neue Leben auf den armenischen Kreuzsteinen wird von Gott Vater selbst geschützt: Der über dem Stein liegende Architrav, das heißt der obere Giebelstein, zeigt meist Engelgestalten, die Gott verehren. Dem Betrachter des armenischen Heiligtums wird deutlich: Es ist Gott, der das neue Leben, das Leben in Fülle schenkt.

Es lohnt, die Kreuze auf den Chatsch‘kharen genauer zu betrachten. Sie sind meist als langgezogenes lateinisches Kreuz dargestellt, häufig mit je zwei knospenähnlichen Gebilden an den Balkenrändern. Hier zeigt sich die armenische Überzeugung des Triumphkreuzes – der Tod hat keine Ketten mehr und wird vom auferstehenden Christus überwunden. In solchen Triumphkreuzen spiegelt sich ein Wort aus dem Matthäusevangelium wider: „Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen, und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen.“ (Mt 24,30). Das Zeichen des Menschensohnes – sichtbar auf den Kreuzsteinen Armeniens.

Kreuzstein mit Tiefrelief und ornamentalem Dekor, Friedhof von Noravank

Doppel-Kreuzstein mit jochartigem Bogenzulauf, Ende 14. Jh., Friedhof Noratus

Die Typologien der Abbildungen auf armenischen Kreuzsteinen zeigen neben dem Golgotha-Hügel gleichzeitig den Berg im Paradies, dem die vier großen Ströme entspringen. Adam, oft am Fuße des Kreuzes abgebildet, wird durch Christus, den neuen Adam, überhöht. Die Präsenz Gottes und der kosmologische Aspekt werden durch rosettenförmige Abbildungen oder das Sonnenrad angedeutet. Mit der Lockerung des Bilderverbots im Osten haben sich auf Kreuzsteinen auch bildliche Darstellungen durchgesetzt. Neben Weintrauben und Granatäpfeln sind Paradiesvögel und Pfauen, oft auch Engel zu finden. Theologischen Motiven ist dann der Fries vorbehalten: Christus und die apokalyptischen Wesen oder die im 7. Jahrhundert durch die byzantinische Kunst beeinflusste Deesis: Maria und Johannes der Täufer stehen in fürbittender Haltung unter dem Kreuz Christi.

So entwickelten sich die armenischen Kreuzsteine zu Vermittlern der Heilsbotschaft. Die Tiefe von Karfreitag und Golgotha, vom leeren Grab und dem neuen Leben an Ostern kann man mit ihnen – und den orthodoxen Ikonen – kaum besser verstehen. Für Armenien und die Armenier sind diese Steine lebendige Heiligtümer, so etwas wie Andachtsbilder aus Stein, und besonders an Ostern präsent.

Auch wenn Engel im Gesimse beten oder Abraham und Adam als Erzväter am Fuße des Kreuzes kauern, im Mittelpunkt steht immer das Kreuz in seiner ganzen Dramatik und Hoffnung auf die Erlösung. Wie im Einladungsruf zur Verehrung des Kreuzes am Karfreitag in der lateinischen Kirche, drückt der Kreuzstein diese Brücke von Verheißung und Vollendung aus: „Seht das Kreuz, an dem der Herr gehangen, das Heil der Welt.“

Wand-Kreuzstein mit eingelassenem Kreuz und Doppelkreisen an den Enden, Kloster Noravank

Friedhof Noratus mit Kreuzsteinen, am Ufer des Sevansees

Die Kreuzsteine mögen zwar aus hartem Stein gearbeitet sein, aber sie zeigen eine filigrane Eleganz, die einzigartig ist für die armenische Kunst. So bleibt jeder Kreuzstein einmalig und ist nie die Kopie eines anderen. Inmitten der meist floralen und dekorativen Motive findet sich die theologische Aussage des Steins: Das Leben aus dem Kreuz. Was passt da besser als jener Satz aus der Ezechiel-Lesung in der Osternacht des Westens, wenn es heißt: „Ich nehme das Herz aus Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ (Ez 36, 16)

Kreuzsteine sind Ausdruck einer biblischen Botschaft. Sie können helfen, Ostern noch besser zu verstehen. Und sie sind Ausdruck für das Leiden und Leben eines ganzen Volkes, so wie es Papst Franziskus im Sommer 2016 bei seinem Besuch in Armenien sagte. Es sei für ihn eine Gnade in dem Land zu sein, „wo die Chatsch’khare – die steinernen Kreuze – eine einzigartige Geschichte erzählen, durchdrungen von felsenfestem Glauben und ungeheurem Leiden, eine Geschichte, reich an großartigen Zeugen des Evangeliums, deren Erbe ihr seid.“

Titelfoto: Hrach Hovhannisyan, gemeinfrei

Beitragsfotos: (c) Matthias Kopp