Köln, Dom, Gerokreuz, Detail
© Hohe Domkirche Köln, Dombauhütte; Foto: Matz und Schenk

… noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein!

Kreuz und Auferstehung. Das Unsichtbare sichtbar machen

„Die Welt ist voll / von abgehängtem Fleisch / wie könnte ein einzelner / … / noch verstören“, fragt die deutsch-amerikanische Dichterin Margot Scharpenberg angesichts des Gerokreuzes im Kölner Dom. Das über 1 000 Jahre alte Bildwerk zeigt einen physiognomisch korrekt wiedergegebenen jungen Mann am Kreuz, lebensgroß: „Vernietet am Kreuzpunkt / von Ort und Zeit / bleibt er den Balken verbunden // ausgesondert / zum Tode / allein“. Das Ungeheure, das provozierend Neue an diesem Kruzifix war seinerzeit, dass es Jesus von Nazareth nicht als Christus triumphans mit geöffneten Augen, als den Überwinder des Todes wiedergibt, sondern als absackenden Leichnam, dessen Augen sich just in dem Moment, da wir ihn ansehen, scheinbar schließen. Das sollte der Erlöser sein? Wie kann ein zu Tode Gefolterter uns das ewige Leben schenken?

Eine Antwort gibt das Gerokreuz selbst. Kein Mensch sieht nach einem solchen Tod so aus wie dieser. Dieser Leib ist glatt und unversehrt, die Merkmale seines Leidens wurden im Wortsinn reduziert – die Seitenwunde ganz in die rechte Achselhöhle gerückt ist en face gar nicht zu sehen. So wie dieser ideal-schöne Leib unbeschadet und damit immer noch vital erscheint, so würden auch wir, lehrte die Kirche, nach der Auferstehung des Fleisches in jugendlicher Schönheit des 33-jährig verstorbenen Mannes aus Nazareth ins Paradies einkehren – wenn …  „Bilder sind mächtig“, behauptet Scharpenberg und lässt ihr Gedicht gleichermaßen in Appell und Skepsis enden: „Du lebst / du Toter und wie / sollen die Toten /…/ mach dir ein Bildnis / wie sollen wir Toten erstehn?“. Indem das Gerokreuz den Widerspruch von Leben und Tod in einer Gestalt harmonisch vereint, würde – nicht mehr und nicht weniger – die Denkmöglichkeit von Auferstehung, die Idee vom Sieg des Lebens über den Tod real. Aber ist das so? Dieser Mensch Jesus war eben kein Mensch wie jeder andere. Als Mensch gestorben, als Gott auferstanden … Wer kann das schon? Wer ist wie dieser? Die Frage bleibt: Was ist mit uns?

Am Bild des Gekreuzigten hängt desweiteren ein prinzipielles Unbehagen. Die figürliche Darstellung des Todüberwinders birgt eine propagandistische Gefahr. Wie der konservierte Leichnam Lenins eben nicht der wirkliche, lebendige Mensch ist, sondern als materielles Relikt allenfalls Erinnerungen an dessen vergängliche? vergangene? tote? unwahre? Ideen wachhält, so kann auch das Gerokreuz nicht zeigen, was doch einer ganz anderen Seinsweise angehören müsste. Eine Nachtod-Existenz würde doch die Zersetzung unserer Körper und die Transformation in eine wohl eher geistige Existenz zur Voraussetzung haben. Der plastische Korpus täuscht uns das, was Auferstehung und ewiges Leben … vielleicht … sein können, in bloß dinglicher Weise vor. Derart würde uns das Bild sogar belügen.

links: Creator mundi, in: Bible moralisée, Paris, um 1250
rechts: Hieronymus Bosch: Johannes auf Patmos, 1485

Theologie und Kunst waren sich zu allen Zeiten mehrheitlich bewusst, dass Nachtod-Existenz nur in numinos-geistiger, aber kaum in personaler Weise zu denken ist. Im paradiesischen Himmel wohnen nicht wörtliche Wölfe bei den Lämmern (Jes 11,6). Das Problem liegt in der Darstellbarkeit des sinnlich nicht Erfassbaren. „O ewig Licht, das in sich selber ruht, (…) [und] unser Ebenbild darinnen“, heißt es ganz am Schluss von Dantes „Paradiso“ über das Göttliche, dem die Seligen in ewiger Freude eingebunden seien. Die Architekten der Gotik haben das gestaltlose Licht – Licht-Erleuchtung-Wahrheit-Gott – zum substantiellen Baustoff ihrer Kathedralen erhoben. In der mittelalterlichen Malerei erscheint der Schöpfergott in einem sphärisch von geschaffener Erde und Himmel abgetrennten, nicht an Materie gebundenen Raum, auf welchen der gleißende Goldhintergrund allenfalls verweisen kann. In Hieronymus Boschs „Vision des Johannes von Patmos“ blickt der Autor der Geheimen Offenbarung mittels des ätherischen Botschafters (Angelus) auf einen Lichtokolus, der hinter dem irdischen Himmel Ausblick auf den göttlichen Himmel, auf die Verheißung liebender, ewiger Existenz gibt – in Gestalt der Gottesmutter. Und da ist wieder dieses Unbehagen: An Materie und Person haftet sich erneut die Schau des Numinosen!

Eine teilweise Aufhebung des Dilemmas wäre erreicht, wenn ein Bild das, was es darstellen möchte, nur im selben Medium des Dargestellten erkennen ließe, wenn also das Numinose, sinnlich Nichterfahrbare nur im Geist und nicht im Bild zu „sehen“ wäre. Das Unsichtbare sichtbar machen, sei Aufgabe der christlichen Kunst, sagte Georg Meistermann, der Altmeister der religiösen Nachkriegsglasmalerei. „Wenn du den Regen sehen willst, musst du durch ihn hindurchschauen.“ Heißt: Was Regen ist, kann ich nicht begreifen, wenn ich versuche jeden einzelnen Tropfen zu erhaschen. Ich muss durch Schleier und Schlieren schauen, muss gewissermaßen hinter den Regen blicken, um ihn als Ganzes wahrzunehmen. Ich muss zwischen den Zeilen lesen.

Meistermanns Bilder sind immer nur zwischen den Zeilen lesbar. Das Schweben sei mehr und mehr sein eigentliches Thema geworden: Damit meinte Meistermann nicht nur die Darstellung gegenständlich schwebender Blätter. Er meinte damit auch den Schwebezustand von Bedeutung. Wenn Meistermann den Heiligen Geist in Gestalt eines zwischen Taubenflügel und weißen Flammen changierenden Bildes wiedergibt (so im mittleren Chorfenster von St. Gereon, Köln), dann gibt er zu erkennen, dass die weiße Taube oder die Pfingstflammen eben nur Metaphern für den Geist sind und er selbst ein Abstraktum. Aber eben dadurch, dass ich durch den Abgleich von angedeutetem Flügel und der Flammenzungen sowie der dazugehörenden Erzählungen auf die Idee verfalle, die Darstellung meine wohl den Geist, bewege ich mich vom Bild angeregt und vom Bild weg bereits im Reich des Geistes, der Gedanken. Ich komme von der Ambivalenz der zunächst abstrakt erscheinenden Form auf deren mehrschichtige Bedeutung, und erst die Bedeutung lässt mich reziprok den gemalten Gegenstand erkennen. Das ist das Aufregende an Meistermanns Kunst.

links: Georg Meistermann: Altarwandbild in St. Karl Borromäus, Köln-Sülz, 1968; Wilhelm Tophinke: Kreuzigungsgruppe, Kastanie, 1951 © Hanno  Sprissler, Köln
rechts: Hans Memling: Jüngstes Gericht, um 1470

Am Altarwandbild von St. Karl Borromäus in Köln-Sülz kann diese reziproke Betrachtungsweise gut nachvollzogen werden. Meistermann schuf das Bild 1968 als monumentales Wandretabel für die hölzerne Kreuzigungsgruppe von Wilhelm Tophinke. Das Wandbild thematisiert in Korrespondenz mit der Kreuzigungsgruppe nicht weniger als die Mysterien von Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi sowie die letzten Dinge: Wiederkehr, Jüngstes Gericht, Auferstehung der Toten und Beginn der Gottesherrschaft. Die Leserin und der Leser mögen die Stärke des Bildes im Vergleich mit Hans Memlings Jüngstem Gericht ermessen. Während man bei traditionellen Darstellungen immer bei der Idee haften bleiben kann, so sähe sie eben aus, die Auferstehung, so kämen eben die Verstorbenen aus ihren Gräbern, kommt man bei Meistermanns Gemälde nicht umhin, Auferstehung, wenn es sie denn geben sollte, als letztlich nicht darstellbaren Prozess des Numinosen zu akzeptieren. Doch das ist sehr viel!

Meistermann hat sich selber zu seinem Werk geäußert: Unten seien die „erstarrte Wellenbewegung und das kalte Gelb der Sonne“ dargestellt, also ein Bild der zu ihrem Ende kommenden Welt. Zu beiden Seiten darüber gäben „die Farben die Schatten der Herrlichkeit, die Linien die Stufen und Straßen unseres Geistes“ wieder, „eine Welt von Farben, die die Wand in der Tiefe gliedern. (…) In der großen mittleren Zone des Bildes kreisen die Farben optisch um das Kreuz.“ Hinter dem Kreuz ist im diagonal aufleuchtenden weißen Grund, im Schattenlicht des Weiß die größte Bildtiefe erreicht. Wer die Überlieferung von Auferstehung und Himmelfahrt Christi heranzieht, wird sich mit diesem Weißschatten an das Grabtuch Christi und den verklärten Leib erinnert fühlen. Der Bildkontext gibt auch genau dies her, und dennoch sind weder Grabtuch noch die weiß gekleidete Gestalt des Himmlischen dargestellt. Hier wird im gegenständlichen Sinne gar nichts dargestellt, sondern „nur“ die Vorstellung von etwas im geistigen Auge des Betrachters evoziert.

Die höchste Verdichtung solch schwebender Bedeutungskomplexität findet sich in der obersten Zone des Bildes. Dort ist eine weit gespreizte, rotlasierte Form mit mittig aufgesetztem Ring zu sehen. Meistermann selbst stellt sie als Schwinge vor, als eines der traditionellen Symbole für den Heiligen Geist. „Dieses Symbol ist gestaltet wie ein großes Omega (Ω) als Zeichen des Beginns der Ewigkeit.“ Im Kontext des Jüngsten Gerichts kann man in dieser Form aber auch eine Andeutung der gespreizten Flügel des Erzengels Michael erkennen, oder dessen scharf geschliffenes Flammenschwert, oder – farblich und formal auf frappierende Weise mit den spätmittelalterlichen Jüngstgericht-Darstellungen vergleichbar – an die vom Kopf Christi („Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende“, Offb 1,8) seitlich ausgehenden Schwert (die Strenge des Gerichts) und Lilie (die Milde des Richters). Wer dem Lebensweltlichen zugetan, mag in der gespreizten, rotlasierten Form auch einen Kleiderbügel sehen, der das Gewand des Verklärten magnetisch nach oben zieht. Zu banal? Ich glaube nicht! Denn auch dies gibt der Kontext, das Lesen zwischen den Bedeutungszeilen her. Mit dem schnöden Bild eines Kleiderbügels wird sogar die aufstrebende Diagonalbewegung des Weißschattenfeldes hinter dem Gekreuzigten so richtig deutlich. Aber noch einmal: Diese Form ist weder Schwert noch Schwinge oder Kleiderbügel. Die Ambivalenz dieser kontextuellen Gestalt provoziert das Interpretieren des Betrachters und erst dadurch wird eine sich reziprok am Bild anhaftende Vorstellung eines sinnlich nicht Fassbaren, Begrifflichen erwirkt. Der eigentliche Gegenstand des Bildes liegt damit im Denken des Betrachters.

„Mach dir ein Bildnis / wie sollen wir Toten erstehn?“, forderte Margot Scharpenberg fragend auf. Wenn auch kein Bildwerk die Wirklichkeit von Auferstehung beweisen kann, so ist doch immerhin das Denken über Auferstehung, der Gedanke real. Wenn es wie bei Meistermann gelingt, den Prozess bewussten Reflektierens, des Abgleichens und Abwägens als einzig möglichen Weg zum Verständnis eines Bildes hervorzurufen, dann ist man schon einmal über das Sehen von Formen und Farben hinaus im Fluidum des Geistes. Das Unsichtbare sichtbar machen! Und die Realität des Geistigen, das sich im Vollzug des Denkens unmittelbar erweist, ist wiederum conditio sine qua non, eine der unabdingbaren Bedingungen der Möglichkeit von Auferstehung. Nicht mehr und nicht weniger. Was damit gewonnen ist:   Hoffnung

10. April 2020 || Beitrag von Markus Juraschek-Eckstein, Kunsthistoriker und Germanist, Bensberg