Wenn Jazz Erde und Himmel verbindet

Der problematische Vorrang des Wortes im Christentum

Wenn sich eines mit Sicherheit vom europäischen Christentum sagen lässt, dann dies: Es gibt einen überwältigenden Primat des Wortes. Daher soll hier die Erde und Himmel verbindende Kraft von Musik mit einem Blick auf das Album „A Love Supreme“ des Jazz-Saxophonisten John Coltrane gewürdigt werden.

Praktisch alles, was annähernd mit dem Glauben zu tun, ist in eine schlechthin ungeheure Menge an Worten gefasst. Sowohl die Bibel als Urdokument des Glaubens, die sich in Texten austauschende Theologie als auch selbstverständlich die Liturgie und das Leben der Kirche: All dies gründet auf eine in sehr vielen Worten vermittelte Botschaft; bezeichnenderweise ist dem Johannesprolog zufolge ja in Jesus Christus das Wort selbst Fleisch, also Mensch geworden. Eine größere Ehrung des Wortes (wenngleich das griechische „logos“, das im deutschen als „Wort“ übersetzt wird, wesentlich vieldeutiger ist!) ist kaum vorstellbar.

Worte müssen in eine Beziehung gesetzt werden, sonst kann man sich nicht verständlich machen. Es braucht einen Wortschatz, über den möglichst viele Menschen verfügen, es braucht Konventionen über den korrekten Gebrauch von Worten, also eine Grammatik, und es braucht nicht zuletzt die stillschweigende Übereinkunft aller Beteiligten, dass sich mit Worten tatsächlich etwas Sinnhaftes aussagen lässt, das zudem rationalen Kriterien genügt.

Es ist leicht zu erkennen, welcher Anspruch daraus für die Theologie, für die Art und Weise, vom Glauben zu sprechen, erwächst – und auch welche ungeheuren Schwierigkeiten. Der Politikberater Erik Flügge hat darauf vor einigen Jahren in seinem Bestseller „Der Betroffenheitsjargon. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“ hingewiesen. Aber selbstverständlich ist das Problem schon viel älter, genauer gesagt: genauso alt wie das Christentum selbst, zweifelt doch schon der Apostel Thomas ganz eindrücklich an den in Worten an ihn gerichteten Zeugnissen und fordert dagegen handfeste Beweise ein. Die „Antwort“ des Auferstandenen ist so provozierend wie zielführend: Er lässt seinen Apostel die Wahrheit im wahrsten Sinne fühlen, indem er dessen Finger in die vom Speer geschlagene Wunde führt. Merke: „Wer nicht hören will, muss fühlen!“ Oder vielmehr: Worte können eben nicht alles vermitteln, was wichtig und notwendig für das ganzheitliche Verstehen und Aufnehmen einer Botschaft ist; unsere Sinnesorgane spielen dabei eine nicht minder wichtige Rolle.

Natürlich hat dies das Christentum, haben das aber auch alle anderen Religionen in unterschiedlicher Intensität immer schon gewusst und auch intensiv gefördert. Der Reichtum der Kirchenausstattung und der liturgischen Feiern mit prachtvollen Gewändern, zahlreichen beteiligten Personen, mit Riten und heiligen Gegenständen, auch der Weihrauchduft und die Musik legen beredt davon Zeugnis ab, dass allein das Wort in seiner nüchternen schwarz-weiß-Optik oft/normalerweise/fast nie ausreicht, diese unsere Welt zu transzendieren und die Glaubensbotschaft in ihrer wortübersteigenden Fülle zu vermitteln.

Das Wort lebt durch andere Künste

John Coltrane 1963

Dass gleichzeitig immer schon mit unterschiedlicher Intensität vorgebrachte Vorbehalte gegenüber Bildern, einem zu prächtigen Kult und auch gegenüber Musik bestanden haben, erklärt sich auch aus der Vieldeutigkeit dieser Künste. Über die Sinnesorgane aufgenommenen stehen sie für die Verantwortlichen der Glaubenssitte im Verdacht, oft einen viel zu schnellen Weg zum rasch entflammten Herzen finden – mit nicht so leicht abzuschätzenden Folgen für die eingeforderte „Richtigkeit“ des Glaubens. Dagegen scheint das Wort doch verlässlicher, eindeutiger und für alle an den Sprechakten beteiligten Personen klar zu sein … Die Musik beispielsweise kennt natürlich auch bestimmte Konventionen wie die Tongeschlechter Dur und Moll oder kulturell geprägte Harmonieempfindungen. Aber wie Musik gefühlt, empfunden, interpretiert wird – das ist doch vor allem die Angelegenheit der Hörenden. Orgelmusik mag beispielsweise der einen Hörerschaft einen Ausblick in den Himmel geben, während die andere durch dieses Instrument oder seinen es Bespielenden – horribile dictu! – geradezu aus der Kirche vertrieben wird.

Musik kann „hören“ und dadurch „fühlen“ lassen, was über das im Wort Ausgedrückte weit hinaus geht. Diese Erfahrung mit einem durchaus spirituellen Horizont teilt sicherlich jeder, der ein Sensorium für diese ganz besondere Kunst hat. Deshalb wäre es zu kurz gegriffen, sie einfach nur als künstlerisches Beiwerk zu verstehen. Sie ist ganz im Gegenteil dazu im Stande, eigene Wege, eigene Perspektiven auf das Unsagbare hin zu erschließen. Musik kann schließlich sogar als persönlicher Weg genutzt werden, um einen „Zugang zum Himmel“, zur eigenen Existenz, zur ganzen Kontingenz des Daseins zu finden. „Die Musik von Bach!“, so geht es sicherlich vielen bei diesen Gedanken durch den Kopf. Ich möchte jedoch ein aktuelleres Beispiel vorstellen, nämlich das im Jahr 1965 vom Jazz-Saxophonisten John Coltrane veröffentlichte Album „A Love Supreme“, das bis heute als Meisterwerk und als eines der wichtigsten Alben des 20. Jahrhunderts gilt. Als Beispiel passt es auch deshalb herausragend, weil Coltrane selbst nur wenig Vertrauen in Worte hatte und beispielsweise Interviews stets mied. Sein Ausdrucksmittel war die Musik, die er aber zum Sprechen zu bringen vermochte wie nur wenige vor oder nach ihm.

„A Love Supreme“ – Eine kurze Höranleitung

Bereits der Titel des Albums lässt anklingen, dass hier eine christliche Tiefenstruktur zu erwarten ist, denn „Eine höchste Liebe“, wie er sich übersetzen lässt: Dieser Titel spiegelt vielleicht Coltranes eigene Erfahrung nach seinem Drogenentzug im Jahr 1957 wider, die in einer Hinwendung zum Glauben und zur Spiritualität mündete.

Dass hier nicht nur ein Jazz-Quartett gemeinsam brillant musiziert, zeigt sich auch im Gesamtaufbau des Werkes, das die Form einer Suite hat und vier aufeinander aufbauende sowie miteinander verwobene Teile enthält: Sie heißen „Acknowledgement“ (Anerkennung), „Resolution“ (Entschluss), „Pursuance“ (Streben) und schließlich „Psalm“.

2. Mai 2020 || von Dr. Michael Hartlieb, Akademiereferent Theologie und Philosophie

Der Beginn des ersten Stücks markiert dabei so etwas wie den Übergang in den heiligen Bereich eines Tempels. Es ertönt ein chinesischer Gong, über den sich Coltranes Saxophon mit einem fanfarenähnlichen Motiv erhebt und damit deutlich werden lässt, dass nun für die kommenden 30 Minuten eine besondere Aufmerksamkeit geboten ist. Ein wirklich „weihevoller Moment“, nicht zuletzt deshalb, weil Coltrane sein Saxophon mit einer würdevollen Eleganz spielt, die zu Tränen rühren vermag. Seine Mitmusiker McCoy Tyner am Piano, Jimmy Garrison am Kontrabass und Elvin Jones am Schlagzeug bilden darüber hinaus mit ihren Instrumenten den perfekten Hintergrund, vor dem das Saxophon eine fast körperliche Materialität annimmt.

John Coltrane, dargestellt als Heiliger

Einzigartig dann der Schluss dieses ersten Teils: Coltrane wiederholt mantra-artig fortlaufend die Worte „A Love Supreme“ – bevor er nahtlos in den zweiten Teil, Entschluss, übergeht.

Dieser Teil erinnert musikalisch an die überschäumende Freude angesichts der Schöpfung, wie sie in vielen Psalmen des Alten Testaments thematisiert wird. Er ist eher konventionell geraten, mit einer klaren Struktur und einer Melodie, die mitgesummt werden möchte. Der nächste Teil, Streben, nimmt dann deutlich Fahrt auf. Rasende Tempi und ein Schlagzeug in Höchstform bilden den dynamischen Spitzenpol der Suite und rauben schlichtweg den Atem. Alles verausgabt sich, gibt sich im tiefsten christlichen Sinn hin, bevor es im letzten Stück, Psalm, zu einem wahrhaft meditativen Ausklang kommt. Alle Struktur löst sich nun in reinem, wehmütig-sehnsüchtigem Klang auf. Wieder „spricht“ das Saxophon mit einer fast menschlich anmutenden Stimme und klingt dabei wie eine in Gebetsform vorgetragene Litanei. „A Love Supreme“ verabschiedet sich schließlich leise.

Kein Fazit, sondern eine Ermutigung

Coltrane starb wenige Jahre nach der Veröffentlichung seines Meisterwerks an Leberkrebs und konnte die weitere Entwicklung des sogenannten „Spiritual Jazz“ nicht mehr mitprägen. Sehr lebendig ist jedoch diese ungewöhnliche Spielart einer Musik, die ja gerade keine Kirchenmusik sein möchte, aber bis in die Gegenwart geblieben. Für Furore sorgt etwa seit einigen Jahren der aus Los Angeles stammende Kamasi Washington, dessen Erstling „The Epic“ fast drei Stunden Musik umfasst und zur Einspielung eine zehnköpfige Band, ein 32-köpfiges Orchester und einen zehnköpfigen Chor benötigte – der Albentitel ist also keineswegs willkürlich gewählt!

Wenn diese nur sehr kurzen Überlegungen eines erreichen möchten, dann dies: Dazu ermutigen, mit offenen Ohren durch die Musiklandschaft zu streifen und selbst offen zu sein für ungewöhnliche Perspektiven auf Spiritualität und die musikalische Suche nach menschlicher Transzendenz.