Jenseits der Idylle: Botschaften eines Gemäldes

Manchmal trügt allzu leicht der Schein. Dies gilt auch insbesondere für die Kunst. So lohnt es sich nicht selten, ein Gemälde – so offensichtlich die Szenerie scheint – genauer zu betrachten: Erst dann erscheint ein „Thema hinter dem Thema“, das erst der zweite und dritte Blick aufleuchten lässt. Das zunächst Vordergründige tritt in den Hintergrund – wie bei Domenichinos Gemälde „Diana und ihre Nymphen“. Was der erste und was der zweite Blick erkennen lässt, das zeigt hier der Kunsthistoriker Daniel Leis. „Reisen“ Sie mit ihm nach Rom in die Galleria Borghese, die dieses Werk von Domenichino, der 1581 in Bologna geboren wurde und 1641 in Neapel starb, zeigt.

Domenichinos Gemälde „Diana und ihre Nymphen“ – eine Bildbetrachtung
Die Galleria Borghese in Rom beherbergt in ihren Räumen ein großformatiges Gemälde Domenichinos. Das über zwei Meter hohe und über drei Meter breite Gemälde kann mit den Betrachtenden in ein interessantes Wechselspiel treten. Trotzdem führt es ein gewisses Schattendasein, was einzig daran liegt, dass die leicht überforderten Besucherinnen und Besucher in jenem Museum, das von hochberühmten Kunstwerken überfließt, kaum wissen, wohin sie sich zuerst wenden sollen.

Nehmen wir uns, wenn Sie möchten, also die Zeit, es im heimischen Sessel auf dem Bildschirm zu betrachten – ein nicht ganz adäquater Ersatz zugegeben. Hilfreich mag neben der hier gezeigten Abbildung ein hochauflösender Scan sein, den Sie hier finden können.

Wir schauen auf eine Szene in freier Natur, vielleicht an einem Waldrand, jedenfalls in eine Landschaft, die keinerlei Spuren menschlicher Siedlung aufweist und den Blick weit nach hinten auf die Berge am Horizont zulässt. Im Vordergrund ist eine Gruppe junger Frauen zusammengekommen. Es handelt sich um das Gefolge der Göttin Diana, die Herrin der Jagd, des Mondes und Schützerin der Geburt. Sie steht prominent, etwas links von der Bildmitte, gut zu erkennen an der Mondsichel in ihrem Haar, dem ihr zugeordnetem Gestirn. Die Nymphen aus ihrem Gefolge, die sich der Keuschheit verschrieben haben, sind zu einem zwanglosen Zusammensein versammelt, einige sind unbekleidet, andere haben lediglich die Brust entblößt. Ein Zeichen dafür, dass sie sich unter sich wähnen. Gänzlich zweckfrei ist das Zusammenkommen jedoch nicht, es findet gerade ein Bogenschießwettbewerb statt. Die Wettkämpferinnen, die sich links von Diana befinden, haben ihre Bögen gerade abgeschossen oder sind im Begriff, einen neuen Pfeil aus dem Köcher zu nehmen.

Der Künstler entfaltet hier ein reizvolles Spiel zwischen ruhenden Körpern und jenen in Bewegung, zwischen Entspannung und Anspannung. Dabei könnte er auch an die zu seiner Zeit berühmteste antike Skulptur eines Bogenschützens gedacht haben, an jene des Apolls

vom Belvedere (Ob die heute im Louvre befindliche Jagdgöttin Diana, die in ihren Köcher greift, zur Entstehungszeit des Bildes bereits bekannt war, ist ungewiss. Sie wurde erst Mitte des 16. Jahrhunderts dem französischen König Heinrich II. vom Papst zum Geschenk gemacht.). Der Wettstreit mit den Künstlern der Antike ist der Kunst der Renaissance immanent, dieser „paragone“ – so der Begriff der Kunsttheorie – erstreckt sich auf „Zitate“ und Anspielungen, wie sie etwa die Rückenfigur in der rechten Bildhälfte neben den Hunden darstellt. Teil des „paragone“ ist aber auch Bildthema der antiken Kunst, von dem man aus literarischen Quellen wusste, neu zu beleben. Das ist auch bei dem vorliegenden Gemälde der Fall. Doch soll diese Idee, die in einen größeren Kontext gestellt werden müsste, hier nicht weiter ausgeführt werden.

Daher zurück zum Bildinhalt. Das Ziel, das die Schützinnen anvisieren, befindet sich in der rechten Bildhälfte. Es handelt sich um einen lebenden Vogel, der an einen Pfahl gebunden war. Die letzten Pfeile haben ihn nicht nur getroffen, sondern vor allem die Schnur durchtrennt, die ihm zur Fessel diente. Der Wettbewerb ist damit entschieden und die Göttin Diana reißt die Arme hoch und präsentiert die Trophäen der Siegerin, eine Schützenkrone, einen goldenen Bogen und einen ebensolchen Köcher. Das Bild stellt also die Klimax, den Höhe- oder Wendepunkt einer Erzählung dar, hier den Moment, in dem der Wettbewerb entschieden wird. Zahlreiche der anwesenden Nymphen sind denn auch noch ganz im Moment des Mitfieberns oder Mitzitterns gezeigt. Auch die Hunde möchten gerade losstürmen, um die zu Boden gehende Beute zu apportieren und können daran nur unter aller Kraftanstrengung der sie Betreuenden gehindert werden. Die Aufmerksamkeit aller scheint auf diesen Punkt gerichtet.

Wirklich aller? Nein, denn die im Vordergrund badende Nymphe, hat etwas anderes, viel Interessanteres entdeckt, von dem sie sich auch durch ihre Nachbarin, die ihr zu zeigen versucht, wo das eigentliche aufregende Geschehen stattfindet, nicht abbringen lässt. Sie, die nackt im Bade liegt, hat im Moment den Betrachter entdeckt.

Ja entdeckt scheint mir das einzig richtige Wort zu sein, denn in ihrem Blick liegt eine Überraschung, die wir als Betrachtende geradezu zurückgeben müssen. Diese Figur ist es, die den und die Betrachtenden plötzlich mit dem Bildgeschehen in Bezug setzt. Keine der anderen Figuren reagiert auf den Betrachter, der sich also durchaus als unbemerkter Beobachter, als Voyeur im wahrsten Sinne des Wortes fühlen kann, wäre da nicht eben jene Nymphe im Vordergrund.

Zwar kennen wir aus der Malerei dieser Zeit und ihrer Kunsttheorie Personen, die den Betrachter aus Bildern heraus anschauen, Portraits der Künstler etwa oder Figuren, die uns mit Gesten auf das eigentliche Hauptgeschehen des Bildes hinweisen. Aber dass wir als Betrachtende so gleichsam als vor dem Bild Stehende entdeckt werden, das ist etwas Besonderes. Wir fühlen uns ertappt, auf einmal sind wir Teil des Bildes. Ja wir finden uns in einer Rolle, die uns nicht zusteht, wir haben die Göttin und ihre Nymphen in ihrer Abgeschiedenheit beobachtet. Eine Freveltat zumal, wenn es sich um einen männlichen Betrachter handeln sollte, dessen Blicken sich zu entziehen Diana und ihr Gefolge geschworen haben. Und hier beginnt ein raffiniertes Spiel mit jenen, die vor dem Bil stehen. Auf einmal sind wir Betrachtende Zeugen einer Szene, die uns hätte verborgen bleiben sollen. Und das völlig unbeabsichtigt, denn wer hätte damit gerechnet, als er seine Blicke auf das Bildgeschehen richtete. Doch das Bild kann noch mehr. Es spielt mit den Assoziationen der Betrachtenden. Womöglich kommt jenen der Mythos des Jägers Aktaion in den Sinn, jenes Unglücklichen, der sich auf der Jagd befindlich urplötzlich der Göttin Diana und ihren Gefährtinnen gegenübersah. Da sich Diana keinem Manne zeigt, verwandelte sie ihn in einen Hirsch und der arme Aktaion wurde von seinen eigenen Hunden gerissen. Eine Geschichte, die ob ihrer Dramatik, der Unentrinnbarkeit des Geschehens, in das der arme Aktaion ohne Absicht geraten war, in der frühen Neuzeit einen hohen Bekanntheitsgrad hatte, ein wichtiges Thema der europäischen Kunst, Literatur und Musik. Dass es besser ist, unentdeckt zu bleiben, darauf verweisen auch die beiden anderen männlichen Beobachter dieser Szene, jene, die sich im Bild selbst verstecken und die am rechten Rand auszumachen sind.

Wir aber, die wir vor dem Bilde stehen, befinden uns nun in fataler Lage. Wir haben uns dem Bilde genähert, unwissend, in welche Falle wir uns begeben haben. Nun dem Blick der Nymphe ausgesetzt, können wir nur hoffen, dass diese uns nicht an die Göttin verrät. Schlüge sie Alarm, würde der ganze Hofstaat sich uns zuwenden, unsere schändliche Rolle als Beobachtende dessen, was wir nicht sehen sollten, enthüllen und uns sicher einer Bestrafung zuführen. Flehentliche Blicke senden wir der Nymphe zu, „Verrate mich nicht!“. Und wie reagiert sie? Ja doch, ein Einvernehmen scheint aufzublitzen, gleich wird sie zwinkern, einverstanden, Fremder, oder etwa nicht? Dieser Moment ist einer der höchsten Spannung. Wir befinden uns wirklich an der Klimax einer Erzählung, einem Wendepunkt der Geschichte. Doch auf einmal ist die ganze Bogenschießerei zu einer Nebensache geworden, unser eigenes Schicksal ist es, das auf der Kippe steht!

Aber, nun höre ich Sie, liebe Leserinnen und lieber Leser, rufen, es ist doch nur ein Bild. Natürlich, nur ein Bild, man kann sich zur Seite wenden, aber es ist ein Bild, dass eine Geschichte erzählt, in der der und die Betrachtende eine eigene Rolle spielt. Die Unmittelbarkeit, mit der wir angesprochen werden, ist im wahrsten Sinne des Wortes ergreifend. Es passiert nicht wirklich und doch ist es real, wie ein Roman, eine Oper, ein Film uns berühren und emotional ergreifen könnte, uns in ihre Geschichte hineinziehen können, so können dies auch Bilder. Das ist große Kunst. In Rom können Sie ihr begegnen.

7. August 2020 || ein Beitrag von Daniel Leis, Kunsthistoriker und Historiker