In the town where I was born … Ringo Starr zum 80. Geburtstag

Der überschaubare Soundtrack meiner frühen Jugend am Niederrhein bestand aus Hörspielen, Martinsliedern und Mozarts kleiner Nachtmusik. Etwas anderes schien es nicht zu geben. Dann aber muss ich etwas gehört haben, das die engen Grenzen dieses Kanons sprengte. Ob im Radio, bei den älteren Geschwistern von Freunden, auf einem Fest – ich weiß es nicht mehr. Die Erwachsenen nannten es „Rock‘n‘Roll“.

Auch wenn das vielleicht eine Spur zu pathetisch klingt: Diese Musik hat mein Leben verändert. Ihr Sound muss etwas zum Schwingen gebracht haben, das mich nicht mehr losließ. Ich verstand natürlich kein Wort, aber auf den Text kam es auch nicht an, sondern nur auf den unglaublichen Klang, die Kraft dieser Musik, die mich in eine ganz andere Umlaufbahn katapultieren konnte. So erlebte ich meine eigene „Kleinstadt-Beatlemania“, wollte ständig die einzige Beatles-Single hören, die sich aus unerfindlichen Gründen in den elterlichen Plattenschrank verirrt hatte: „Help / I‘m down“ von 1965. Irgendwann entdeckte ich dann auch noch eine Elvis-LP. Es muss nervtötend, aber auch belustigend gewirkt haben. Jedenfalls würgte niemand die Leidenschaft des Grundschülers ab, so zweifelhaft das Gekreische dieser „Pilzköpfe“ manchem Älteren auch erschienen sein mag. Für mich jedenfalls gab es nichts Größeres als Rock‘n‘Roll und die Beatles.

Mittlerweile bildet der gute alte Rock‘n‘Roll der 1950er und frühen 1960er mit seinen simplen Zweiminutenstücken nicht mehr den Hauptteil meiner musikalischen Kost. Aber am heutigen Rock‘n‘Roll-Tag sei dieser Musik und allem, was sich aus ihr entwickelt hat, dankbar gedacht. Und weil es immer schöner ist, den Dank an eine Person zu richten, als nur abstrakt einem Konzept oder einer Idee zu huldigen, überreiche ich meinen Blumenstrauß einem Mann, der wie kein zweiter die positive, heitere Kraft dieser Musik verkörpert: Ringo Starr.

Der legendäre Schlagzeuger der Beatles wurde als Richard Starkey am 7. Juli 1940 im Dingle, einem der ärmsten Stadtteile Liverpools, geboren. Die Eltern ließen sich scheiden, als der kleine Richard drei Jahre alt war. Zudem litt das Kind gleich an mehreren, teils lebensbedrohlichen Krankheiten. Seine Mitschüler nannten ihn „Lazarus“. In einem Sanatorium gab man dem Jungen improvisierte Percussion-Instrumente, um seine Motorik zu schulen. So entdeckte er seine Leidenschaft: das Schlagzeugspiel. Viele andere Instrumente habe man ihm angeboten, er aber habe nur das Schlagzeug spielen wollen, erinnerte sich Starkey später.

Als er die Schule mit 15 Jahren verließ, hatte er dort wenig mehr gelernt als mit der „guten“ rechten Hand zu schreiben, statt mit der „schlechten“ linken. Er hätte sein Leben als Aushilfskellner oder Fabrikarbeiter gefristet, wäre da nicht seine Leidenschaft für die Musik gewesen. Diese führte ihn zu einer der angesagten Liverpooler Rock‘n‘Roll-Bands: „Rory Storm and the Hurricanes“. Mit seiner langen Nase, den traurigen Augen und dem fliehenden Kinn war Starkey vielleicht keine Schönheit. Aber die auffälligen Ringe, die er trug, gaben ihm ein extravagantes Aussehen und inspirierten ihn zu dem Künstlernamen, unter dem ihn heute die ganze Welt kennt.

Starrs Lebensgeschichte nahm dann eine glückliche Wendung, als er in Hamburg die Beatles kennenlernte, eine andere, noch weitgehend unbekannte Band aus seiner Heimatstadt. Wenig später folgte Starr dem Angebot, den glücklosen Pete Best als Schlagzeuger der Beatles abzulösen. Es dürfte die beste Entscheidung seines Lebens gewesen sein. Denn damit komplettierte er ein Quartett, das die Musikgeschichte entscheidend prägen sollte. Zwar sind es vor allem die Kompositionen der beiden genialen Tondichter John Lennon und Paul McCartney, die den außergewöhnlichen Rang der Gruppe begründen. Aber ohne ihren Lead-Gitarristen George Harrison und eben den Schlagzeuger Ringo Starr wären die Beatles nie derart erfolgreich geworden.

Man mag lange über die musikalischen Fähigkeiten des Autodidakten Starr streiten. Obschon er einigen Beatles-Klassikern wie „Yellow Submarine“ oder „With a little help from my friends“ ihren charakteristischen Sound verliehen hat, ist er kein „singing drummer“ wie etwa Phil Collins (Genesis), Don Henley (The Eagles) oder Levon Helm (The Band). Auch verfügt Starr nicht über die technische Brillanz eines Keith Moon (The Who), Ginger Baker (Cream) oder John Bonham (Led Zeppelin). Dennoch preisen Kollegen wie der Studiomusiker Jim Keltner oder der Perkussionist Ray Cooper Starrs Fertigkeiten, seine extrem fluide Spielweise und seine einzigartige Begabung, die Lücken eines Songs mit kleinen Preziosen zu füllen. Auch herausragende Schlagzeuger hätten Schwierigkeiten, diese Effekte zu imitieren, bekannte Phil Collins einmal. Dass Starr sein charakteristisches Spiel darauf zurückführt, ein umerzogener Linkshänder zu sein, darf als freundliches Understatement gelten.

Ringo Starrs Beitrag zur modernen Musik geht indes weit über sein Spiel am Schlagzeug hinaus: Ohne seinen – bisweilen unfreiwilligen – Witz und die daraus entstandenen „Ringoismen“ hätte es Songtitel wie „A hard day‘s night“ oder „Tomorrow never knows“ nicht gegeben. Und ob die großen Egos von Lennon und McCartney es so lange miteinander ausgehalten hätten, wäre da nicht der stets gut gelaunte und liebenswürdige Ringo gewesen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Als die „fab four“ auseinandergingen, erbte jeder der vier Musiker, so will es die Legende, einen Teil des ideellen Gesamtkunstwerks: John Lennon wurde zum Sachwalter des politisch-intellektuellen Erbes, Paul McCartney führte die Tradition der generationenübergreifenden und völkerverbindenden Musikshow mit großem Erfolg weiter, und George Harrison hat, wie der Musikjournalist Stephen Holden einmal schrieb, die spirituelle Aura der Gruppe „mit bemerkenswerter Anmut bewahrt“.

Ringo Starr aber, das „hässliche Entlein“ aus ärmsten Verhältnissen, bekam überreicht, was ganz zuunterst in der großen Schatztruhe lag und was für alle Zeiten ein essentielles Ingredienz des Rock‘n‘Roll bleiben wird: die pure und unverwüstliche Freude am Spiel um seiner selbst willen.

In dieser Woche feiert Sir Richard Starkey MBE, der Homo ludens der neueren Musikgeschichte, seinen 80. Geburtstag.

Peace and love!

Bilder
Zwei Ikonen. Graffito in Vila Madalena, Brasilien. Bild von Monica Silva auf Unsplash, gemeinfrei.
Beatles drummer Ringo Starr eats fish and chips, 1967. Bild von badgreeb pictures auf Flickr, gemeinfrei.
Ringo Starr & His All-Starr Band, Newark, NJ 11/16/17. Bild vom Rob DiCaterino auf Flickr, gemeinfrei.

9. Juli 2020 || von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent Forum PGR