In den Blick nehmen

Stören-Friede

Hier beginnt alles. Das Geschehen von Passion und Ostern nimmt im Garten Gethsemane seinen Anfang. Der greise Ölbaum hat sich nichts erspart. Keinen Sommer und nicht einen Winter. Der Stamm hockt wie ein Fossil aus einer anderen Zeit, ledrig, aufgerissen und zerbeult. Die Erinnerung an Einsamkeit, Todesangst und Verrat hat Spuren hinterlassen. Bedrohlich krallen die Wurzeln und überragen die Ränder auf der Suche nach einer anderen, neuen Erde.

Der Flensburger Künstler Uwe Appold hat im Nachklang zu seiner Arbeit am Misereor-Hungertuch „Mensch, wo bist du?“ einige Tage im Garten Gethsemane gezeichnet. Dieses Bild ist unter dem Eindruck der Reise und mit Erde von Gethsemane entstanden.

Dieser Ölbaum hat keine Wurzeln mehr. Sie sind gekappt. Übrig bleibt ein Versatzstück ohne Volumen, das wie eine aufgeklappte Rinde das Bild füllt. Abgeschnitten vom Leben und seinem Ursprung ist er eine leere Hülle, die keinerlei Aktivität zeigt. Von den Wurzeln bis in die Wolken ragend, sind Bäume Symbole der Verbindung von Erde und Himmel. Seit Noahs Taube mit einem Olivenzweig im Schnabel zur Arche zurückkehrte, gilt der Olivenbaum vielen Kulturen als Symbol des Dialogs, der Frieden schafft.

Dieser hier ist bloße Fassade.

Halb verdeckt ragt links ein Zeitungsschnipsel unter dem Stamm heraus: eine erschütternde Pressemitteilung über den landesweiten Missbrauch von Kindern. Zufall? Vielleicht. Der Künstler versteht und liest kein Hebräisch. In der Erde, wie auf dem Grund eines Brunnens, lesen wir die eingelassenen Worte: „grundsätzlich“ – „Verhalten“ – „inakzeptabel“.

Verbrechen, die auch unter dem Deckmantel von Kirchen geschehen sind, wurden gedeckt, vertuscht, verharmlost. Kirchen – und wir als ihre Botschafter:innen – sind zerbrechliche Gefäße, schreibt Paulus, die das Wort Gottes wie einen Schatz für die Welt in sich tragen sollen. Wir haben versagt. Das Wort, das die Täter und ihre Taten verurteilt, erreicht uns von außerhalb!

Die Frauen und Männer an der Wurzel schauen nicht länger tatenlos zu. Sie senden von der „Basis“ belebende und mutige Signale. Sie treten dem Baum auf die Füße.

Kirchen brauchen Propheten und Prophetinnen, die ihnen auf die Füße treten.

Der fünfte Fastensonntag ist MISEREOR-Sonntag. Zum zweiten Mal findet die Fastenaktion des bischöflichen Hilfswerks nun unter Corona-Bedingungen statt. In diesem Jahr steht die Aktion unter dem Motto „Es geht! Anders.“ Schwerpunktland ist Bolivien. Sie können die Aktion mit einer Spende unterstützen, die Sie auch einfach online tätigen können: Hier geht es zur Spendenseite von MISEREOR.

In der neuen Reihe haben wir ausgewählte Personen gebeten, ihr persönliches Lieblingsbild (Gemälde, Foto, Zeichnung, Druck) „in den Blick zu nehmen“ und dazu etwas zu schreiben. An jedem Fastensonntag erscheint nun ein ganz persönlicher Beitrag zu einem Bild.

Wie kam es zu dieser Idee? Ein Kunstwerk zu betrachten, sich damit auseinander zu setzen, hineingezogen zu werden, das kann glücklich machen, davon sind wir, das Redaktionsteam des Blogs „Akademie in den Häusern“, überzeugt. Aber auch die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu erweitern, bringt uns dem Glück und der Zufriedenheit ein entscheidendes Stückchen näher. Die unterschiedlichen Bilder, die in dieser kleinen Reihe gezeigt werden, laden uns ein, genauer hinzusehen und wahrzunehmen, was ist. Auf diesen Perspektivenwechsel in der Fastenzeit freuen wir uns! Lassen Sie sich, genau wie wir, mit allen Sinnen ansprechen.

Uwe Appold: Zeichnung Nr. 3 aus dem Gethsemane-Zyklus „Mit IHM allein“. Zeichenkarton, Zeitung und Erde aus dem Garten Gethsemane. September 2018.

21. März 2021 || ein Beitrag von Dr. Claudia Kolletzki, MISEREOR Aachen