Ich packe meinen Koffer.

Sandra Gilles, Teamleiterin der Ferienakademien, plant und organisiert die Kulturreisen für das Jahr 2021. Seit 12 Jahren arbeitet sie mit viel Engagement und vor allem Herzblut im Referat Ferienakademien.
In diesen Blog-Beiträgen unterhält sie sich mit den Reiseleiterinnen und Reiseleitern der Thomas-Morus-Akademie Bensberg. Sie stellt Fragen, bohrt nach, hinterfragt, reist manchmal zurück mit ihnen in die Vergangenheit und blickt mit ihnen in die Zukunft. Endlich stellt sie die Fragen, die wir schon immer fragen wollten. Viel Freude mit den neuen Blog-Beiträgen „Ich packe meinen Koffer“.

„Ich packe meinen Koffer“ erscheint in regelmäßigen Abständen auf dem Blog „Akademie in den Häusern“.

Lieber Herr Dr. Thiel, seit ziemlich genau 19 Jahren sind Sie für die Thomas-Morus-Akademie tätig. Ihre erste Veranstaltung – eine Offene Akademietagung über Kunst und Alltag im Byzantinischen Reich – haben Sie am 23. Februar 2002 durchgeführt. Seitdem ist viel passiert: Sie haben 165 Ferienakademien geleitet, an weiteren 153 Seminaren und Akademietagungen mitgewirkt und viele Jahreswechsel mit unseren Akademiegästen gefeiert. Wenn Sie drei Höhepunkte der letzten Jahre benennen müssten – welche wären dies?

Es gibt sie immer, diese ‚Sternstunden‘ und man kann sie nicht planen, man bekommt sie geschenkt. So ist für mich die Ankunft in Venedig immer wieder ein Höhepunkt. Und wenn dann winterlicher Sonnenschein, eine klangvolle ‚Traviata‘ im Opernhaus ‚Fenice‘ und ein Gala-Abendessen bei ‚Salvatore‘ zusammenkommen, dann sind alle Strapazen vergessen … Höchst dankbar bin ich der Akademie auch für die Chance, seit einigen Jahren die Gäste zum ‚Salzburger Festspielsommer‘ begleiten zu dürfen. Cecilia Bartoli in der ‚West Side Story‘, Riccardo Muti am Pult der ‚Aida‘ oder der aufregende ‚Lear‘ von Aribert Reimann in der Felsenreitschule sind immer wieder Höhepunkte. Und zum dritten ein stilleres Erlebnis: vor einigen Jahren durfte ich eine Gruppe durch Andalusien begleiten. In Cordoba waren wir die ersten Besucher, die im Morgenlicht die Moschee betreten durften. Völlig schweigend (was mir extrem schwerfällt) durchmaß ich fast eine halbe Stunde lang alleine mit meinen Gästen den einzigartigen Raum. Diese Aura vergesse ich nie mehr.

Wir kennen Sie als Kunsthistoriker und Archäologen mit Leib und Seele. Woher kommt diese Leidenschaft; wann war Ihnen klar, dass es das ist, was Sie studieren möchten? Und: wenn Sie nochmal vor der Berufswahl stünden, wäre Ihre Wahl immer noch dieselbe?

Das ist auch mir und vor allem meinen Eltern immer noch ein Rätsel. Sicher ist: schon im Kindergarten habe ich mich für Ägypten und die Pyramiden interessiert. Astronaut, Lokomotivführer oder gar Fußballspieler kamen als Berufswahl nie in Betracht. Die ersten Opernerlebnisse ließen dann an eine Karriere als Bühnenbildner denken, aber dazu braucht es handwerkliche Begabung. Und so war der Dreiklang meines Berufswunsches: Archäologe, Bühnenbildner, Kunsthistoriker. Das war so, das ist so und das bleibt so. Nichts anderes ist denkbar. (Das habe ich schon am ersten Tag in der Universität bestätigt bekommen, als ich versehentlich statt zu den Kunsthistorikern zu den Künstlern ging. Allein der Anblick der völlig verdreckten Ateliers ließ mich den sofortigen Rückzug in die Welt der Museen, Bibliotheken und Kunstlandschaften antreten.)

Apropos – aus zuverlässiger Quelle wurde mir „belastendes“ Material zugespielt: Mitte der 1980-er Jahre haben Sie eine Studienreise unternommen, die heute wohl nur noch wenige junge Männer unternehmen würden und die mir als Frau wohl immer verwehrt bleiben wird: Sie waren gleich zwei Mal innerhalb kürzester Zeit stolzer Besitzer eines Diamonitirion (= Aufenthaltserlaubnis für den Berg Athos). Ein Besuch, der Sie offensichtlich sehr geprägt hat?

Ja, aber wiederum nur den Augenmenschen, kaum das Innere. Die beiden Besuche auf dem Athos waren Teil eines neunmonatigen Studienaufenthaltes bei den Jesuiten in Athen. Im Zentrum stand zu Beginn natürlich die Klassische Antike, die tägliche Pilgerfahrt auf die Akropolis und ins Athener Nationalmuseum. Doch hat sich die Welt von Byzanz immer weiter in den Vordergrund gedrängt und nach der Studienzeit in Griechenland habe ich sogar mein Studienfach gewechselt, von der Klassischen Kunstgeschichte hin zur ‚Christlichen Archäologie und Byzantinischen Kunstgeschichte‘. Orchideenfach in Reinkultur. Mein Frankfurter Professor was not amused. Aber ich hatte meinen Platz gefunden.

(Über meine beiden Athos-Aufenthalte habe ich einst Tagebuch geführt. Diese ‚Jugendsünde‘ wird demnächst als bebilderter Text in der ‚AkademiePlus‚ angeboten.)

Nicht nur auf dem Berg Athos haben Sie eindrucksvolle Zeichnungen angefertigt. Mittlerweile gibt es eine ganze Sammlung Ihrer Werke – und das Faszinierende daran ist: Sie müssen dafür gar nicht vor Ort sein. Wie machen Sie das? Haben Sie ein fotografisches Gedächtnis? Das Besondere: Bald können Ihre Karten exklusiv auf der Internetseite der Akademie erworben werden. Was dürfen unsere Gäste dort erwarten?

Das Zeichnen und auch die Druckgraphik haben mich viele Jahre begleitet. Schwer erarbeiten musste ich mir die spontane Skizze, die Ungenauigkeit zulässt aber dafür Atmosphäre einfängt. Wenn ich aus dem Gedächtnis zeichne, vergleiche niemand das Ergebnis mit dem Original! Man mag es wiedererkennen, aber es hat kaum mehr als eine oberflächliche Ähnlichkeit mit dem Vorbild. Ein photographisches Gedächtnis würde ich mir wünschen, denn dann hätte ich keine Probleme mehr damit, die Menschen meiner Umgebung wiederzuerkennen, auch dann, wenn sie eine neue Frisur haben. Manch peinlicher Situation ließ sich so nicht entkommen …

Aus meinen italienischen, spanischen und griechischen Skizzenbüchern sollen einige Motive im Kunstdruck auf Grußkarten druckt werden. Die kleinen Serien sind ausgesucht und ich bin selbst sehr gespannt auf das Ergebnis.

Vom Zeichner zu den Sprachwissenschaftlern: Als Sie diesen Sommer die Idee präsentierten, 2021 eine Reise nach Kassel und Umgebung anzubieten, waren wir zunächst skeptisch. Aber dann haben Sie diesen schönen Programmtext und ein stimmiges Konzept abgeliefert …kurzum: intern hat sich die Ferienakademie „Es war einmal …“ zum Liebling der Kolleginnen und Kollegen gemausert. Welches ist denn eigentlich Ihr Lieblingsmärchen?

Als Augenmensch habe ich zuerst die landschaftliche Schönheit und die Kunstwerke der Jahrhunderte gesehen. Das ‚geistige Band‘ der Grimm’schen Märchen war sekundär. Ich erinnere mich auch nicht, dass man mir die Geschichten als Kind vorgelesen hätte. Die Helden meiner Knabenjahre waren eher Winnie the Pooh, Peter Pan, A- und B-Hörnchen und natürlich alle Figuren, die an Fäden die ‚Augsburger Puppenkiste‘ bevölkerten … ‚Hänsel und Gretel‘ machten auf den Neunjährigen einen nie verlöschenden, tiefen Eindruck. Aber als Opernabend … Und konkret geantwortet auf die Frage (und auf die Gefahr hin, dass es gerade hier und jetzt unpassend wirkt): meine Lieblingsmärchen finden sich eher unter den literarischen Kunstmärchen, etwa Andersens ‚Hässliches Entlein‘ oder die ‚Kleine Meerjungfrau, aber auch Goethes ‚Knabenmärchen‘ oder E.T.A. Hoffmanns ‚Goldener Topf‘. Das ist alles sehr artifiziell und weit weg von der scheinbar einfachen Naivität der ‚Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm.

Ihr Herz schlägt ja vor allem für Italien. Mit unseren Ferienakademien nach Apulien und Umbrien, ins Latium und Piemont könnte es in diesem Jahr theoretisch gleich vier Mal heißen: „Bentornato nella bella Italia!“ Wie sehr hat Ihnen das Reisen im vergangenen Jahr gefehlt und worauf freuen Sie sich am meisten, wenn es endlich wieder losgeht?

Durch meine intensive Tätigkeit an Blog-Beiträgen und ‚Virtuellen Vorlesungen‘ bin ich seit Monaten tief in meinen rund 150.000 Photos versunken und erinnere mich herrlicher Reiseerlebnisse. Fast mehr als meinen Sinnen, scheint meinem Körper das Reisen zu fehlen. Jede Ferienakademie war wohl immer mehr als ich dachte, auch ein ‚workout‘. Man musste möglichst an mehreren Stellen zugleich sein und an alles denken… Einerseits habe ich nun ein wenig Angst davor, dass meine Kondition zu sehr gelitten haben könnte, andererseits geht natürlich nichts über die Momente, in denen man etwa den Innenraum einer Kathedrale betritt, aus dem Dunkel einer Gasse in das Licht der Piazza gelangt, wieder vor den originalen Meisterwerken der Kunst steht und auch die Opern nicht mehr aus der Konserve hören muss. Darauf aber freue nicht nur ich mich, darauf wird jeder von uns sich freuen.

Eine letzte Frage (mit der Bitte um kurze Antwort): unsere neue Serie auf unserem Blog „Akademie in den Häusern“ heißt „Ich packe meinen Koffer …“. Welcher ggfs. kuriose Gegenstand darf in Ihrem Gepäck keinesfalls fehlen?

‚Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar‘ … seltsamerweise fehlt niemals ein Kamm in meinem Handgepäck … auch wenn seit 35 Jahren niemand mehr weiß, wozu eigentlich …

20. Februar 2021 || das Gespräch führte Sandra Gilles, Reisekoordinatorin im Referat Ferienakademien

Sandra Gilles - Thomas-Morus-Akademie Bensberg

Dr. Andreas Thiel ist Kunsthistoriker und Archäologe.