Horcynus Orca von Stefano D’Arrigo – Süditalien, wie Sie es noch nicht gelesen haben!

Eine odysseische Entstehungsgeschichte

Bei manchen Romanen ist die Entstehungsgeschichte beinahe ebenso spannend wie der Inhalt selbst: „Horcynus Orca“ des italienischen Schriftstellers Stefano D’Arrigo (1919-1992) ist zweifellos ein solches Buch. D‘Arrigo, im Jahr 1919 in Messina geboren, beginnt nach der Veröffentlichung eines Gedichtbandes im Jahr 1956 mit der Arbeit an seinem monumentalen Werk, das zunächst auf 600 Seiten angelegt war. Zwei Episoden aus diesem Werk werden im Jahr 1959 mit einem italienischen Literaturpreis ausgezeichnet, die Juroren drängen D’Arrigo dazu, das bisher Geschriebene noch zu erweitern und zu überarbeiten. Damit ist die Geschichte keineswegs vorbei, denn bis zum Abschluss der Endredaktion sollten noch 16 Jahre ins Land gehen. Im Jahr 1975 erscheint in Italien „Horcynus Orca“ und gilt sofort als Meisterwerk der Literatur der Moderne, wird aber auch mit Kritik bedacht: Immerhin ist das Werk auf mehr als das Doppelte angeschwollen und gegenüber der Urfassung inhaltlich und sprachlich stark überarbeitet. Der Autor selbst legte auch nach der Veröffentlichung die Hände nicht in den Schoß – bis zu seinem Tod überarbeitete er immer wieder einzelne Passagen, die in eine kritische Ausgabe einfließen.

An eine deutsche Fassung war über lange Zeit überhaupt nicht zu denken, da der Text als schlechthin unübersetzbar galt – warum, dazu gleich mehr. Der Übersetzer Moshe Kahn musste jedenfalls zunächst lange für den Roman werben, bevor die Übersetzung zunächst durch den Ammann Verlag, ab 2010 dann schließlich durch den S. Fischer Verlag finanziert wurde. Dort erschien das Werk dann mit seinen mittlerweile 1475 Seiten im Jahr 2015 unter dem hymnischen Beifall der Literaturszene – und Kahn wurde postwendend der Deutsch-Italienische Übersetzerpreis verliehen.

Ein odysseischer Roman

Warum der Text als unübersetzbar galt, machen Ort, Zeit und handelnde Personen deutlich:

„Die Sonne ging auf seiner Reise viermal unter, und am Ende des vierten Tags, welcher der vierte Oktober neunzehnhundertdreiundvierzig war, erreichte der Matrose ’Ndrja Cambrìa, einfacher Oberbootsmann der ehemaligen Königlichen Marine, den Landstrich der Feminoten an den Meeren zwischen Skylla und Charybdis.“

– so hebt der Roman an.

Wir befinden uns offensichtlich im 20. Jahrhundert, aber gleichzeitig auch in mit Mythologie geschwängertem Gewässer, war es doch zuletzt Odysseus, der mit seinen Mannen zwischen den Seeungeheuern Skylla und Charybdis navigieren musste. Geographisch befinden wir uns also an der Straße von Messina (siehe das Beitragsbild!), wo Skylla und Charybdis in der Antike verortet wurden. Jahrtausende später ist es nun der Matrose ’Ndrja Cambrìa, der eine Möglichkeit zur Überfahrt vom italienischen Festland nach Sizilien, seine Heimat, sucht. Doch durch die Kriegshandlungen und die Angriffe der Alliierten sind alle Boote entweder konfisziert oder zerstört – und so irrt er nun, begleitet von einigen anderen Kriegsheimkehrern oder -flüchtlingen, an der Küste entlang, um eine Möglichkeit der Überfahrt zu suchen. Das gestaltet sich als schwierig, ja als unmöglich …

In diese Suche einer Möglichkeit zur Überfahrt eingewoben sind zahlreiche Reflexionen ’Ndrja Cambrìas auf die eigene Lebensgeschichte, die der Eltern, die Mythologie der Gegend, die Armut der Menschen und letztlich auf die sizilianische Bevölkerung insgesamt. Er sammelt und beobachtet Sinneseindrücke, eigene und fremde Erinnerungen und Traumgestalten und ist fortwährend „damit beschäftigt, mit all den Splittern zu Rande zu kommen, in die sich die alte Welt aufgelöst hat“. Die alte Welt, das ist auch der sizilianische Dialekt und ganz fremdartige Begriffe, die Moshe Kahn übrigens unübersetzt lässt, um sie in ihrer schwebenden Unbestimmtheit zu erhalten. Dadurch tritt den Lesenden hier nicht das Sizilien der Reisekataloge, der klassischen „Grand Tour“, ja nicht einmal das Sizilien der Antike oder gar der Mafia entgegen, sondern das Sizilien der einfachen Leute: das Sizilien der Fischer, das Sizilien armer Strandbewohner, das Sizilien der Heimatsuchenden und vom Krieg Versprengten.

Nicht eben vereinfacht wird die Lektüre des Romans durch seine Sprachgewaltigkeit sowie die ungeheure Zahl an mythologischen und religiösen Anspielungen, die den Lesegenuss weiter erhöhen – oder auch erschweren, wenn man sich zum wiederholten Male fragt, wie der vergangene Satz nun eigentlich zu verstehen ist. Nicht nur von Ferne erinnert das an eine andere berühmte Odyssee des 20. Jahrhunderts, nämlich James Joyces „Ulysses“.

Faszinierend ist außerdem, wie es D’Arrigo gelingt, eines der beliebtesten Tiere überhaupt als wahren Todfeind der Fischer Siziliens zu charakterisieren und es gleichermaßen als Symbol des Faschismus zu stilisieren: Die Rede ist vom Delphin, im Buch großenteils mit dem Dialektwort „Fere“ bezeichnet. Aus der Sicht des Protagonisten ’Ndrja Cambrìas ist diese Charakterisierung vollkommen richtig, denn das räuberische Säugetier entzieht den Fischern ihre Lebensgrundlage, zerstört ihre Netze und macht sich durch sein theatralisches Verhalten auch noch lustig über die in Armut lebenden Fischer. Genau in dieser Hinsicht wird die „Delfifere“ zum Todes- und damit Leitmotiv des Romans, weil sie den Bewohnern der Gegend um die Straße von Messina ihre Armut widerspiegelt und die dauerhafte, unabwendbare Bedrohung durch das Schicksal verkörpert.

Zu entdecken ist ein Roman, der wie ein Füllhorn die menschlichen Erfahrungen und die Mythen von Jahrtausenden enthält und in genialer Weise miteinander ins Gespräch bringt. Auch wenn der Roman zu einer genau bestimmten Zeit spielt, ist er doch überzeitlich in seinen Themen und Perspektiven auf die Welt – eine Entdeckung, die das Einarbeiten und Erarbeiten wirklich lohnt.

20. Mai 2020 || ein Beitrag von Dr. Michael Hartlieb, Akademiereferent Theologie und Philosophie