Eindringlich: Morgners Gemälde Einzug in Jerusalem

Die Rückbezüge zu Franz Marc, dem Blauen Reiter und den französischen Fauves, zu denen Wilhelm Morgner durchaus in Kontakt stand, sind unverkennbar; einen Reflex auf den tief gehegten Wunsch der Mutter, er möge evangelischer Pfarrer werden, erhellen das Bildsujet „Einzug in Jerusalem“.

Das querrechteckige Format des Gemäldes greift die Bewegungsrichtung des ansonsten sich in Farbflächen auflösenden Bildsujets auf und lädt uns als Betrachtende ein, sukzessive das „Geschehen“ des Einzugs mit zu vollziehen.

Unwirklich in seinem Farbenspektrum, fast einem Traum entflohen, bietet sich dem Betrachtenden eine sich aus dem abstrakten liniengeführten Hintergrund geschlossene und sich absetzende Figurengruppe dar. An ihr entlang steuert ein Reiter von links nach rechts auf eine Person zu, die am Boden sitzt und ihm die Arme entgegenstreckt. Dem Ideal des abstrakten Expressionismus verpflichtet, wird das Dargestellte von einer merkwürdigen gegenseitigen Konturierung der Farbflächen bestimmt. Nahezu schwimmend präsentiert sich das Geschehen und unterstreicht den fließenden Bewegungscharakter.

Auch diese Darstellung des biblisch überlieferten Einzugs Jesu nach Jerusalem hat ein Ziel: Und dieses ist nicht – wie in so vielen anderen Darstellungen – die architektonische Davidstadt, sondern der Arme, der im Staub liegt, und der nach IHM, seinem Heil, schreit (vgl. Ps 113,7; Ps 142,5). Ein wenig, so scheint es, verweben sich in der Bildinvention dieses Werkes mehrere bekannte biblische Szenen, die vor unserem inneren Auge und Ohr wachgerufen werden: „Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt“ (Joh 1,26) – so ruft es der Täufer am Jordan – und in der Tat, es gilt die Gestalt des Reiters genau zu fixieren – „was er euch sagt, das tut“ (Joh 2,5) – den Blick und das innere Hören auf Jesus gerichtet halten, damit seine Gegenwart sich nicht durch unsere Alltagsgewohnheiten verflüchtigt.

Oder die andere biblische Szene, die uns von Bartimäus berichtet, der laut um das Erbarmen Jesu schreit, während die Umstehenden versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen (Mk 10,47). Hier kommt nun der Sanftmütige auf dem Rücken einer Eselin (Sach 9,9) daher, der das Erbarmen Gottes ist: „Hosanna Dir, dem Sohne Davids!“ Er ist, so scheint es, wie der barmherzige Samariter, der den von der Schuld und Sünde Halbtoten rettend auf sein Reittier hebt (Lk 10,), denn er will ja nicht den Tod des Sünders (Ez 33,11), sondern dass er im Glauben umkehrt und lebt. Stolz mögen die meisten Menschen auf einem Pferd daher geritten kommen – wie viele Reiterstatuen auf unseren Plätzen künden davon! – doch dieser ist gütig und von Herzen demütig (Mt 11,29), sein Ritt fordert keine oberflächliche Bewunderung, sondern Einlass in unser Leben. Diese Bewegung Jesu auf den Menschen hin, seine ureigene Sendung, soll schlussendlich in Jerusalem zu ihrer Erfüllung kommen: „Obwohl er in sein Eigentum kam, nahmen ihn nicht alle auf; aber alle, die ihn aufnahmen, gab er Macht Kinder Gottes zu werden.“ ( vgl. Joh 1,11f.).

Wo stehst du in diesem Bild? Was ist deine Haltung dem, der dir entgegenkommt wie der gute Vater (Lk 15,20) und in deinem Lebenshaus zu Gast sein möchte ( Lk 19,5f.)? … das sind Fragen, auf die es zu antworten gilt.

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5. April 2020 || Dr. Arno-Lutz Henkel, Kunsthistoriker und Theologe, leitet Erkundungen und Ferienakademien