Aus der Bibliothek der Zukunft: Der Weltensammler

Heute setzen wir unsere Reihe „Bibliothek der Zukunft“ fort. In ihr stehen Bücher, die wir Ihnen zur zukünftigen Lektüre empfehlen. In einer Zeit, in der das Reisen vor neuen Herausforderungen steht, wählte nun der Kunsthistoriker und Historiker Daniel Leis den „Der Weltensammler“ von Ilija Trojanow aus: ein Buch von einem Autor, der in Sofia geboren wurde und der nach Stationen in Nairobi, München, Mumbai und Kapstadt heute in Wien lebt. Der sorgfältig recherchierte Roman folgt den Spuren Richard Francis Burton und führt als „informativ-unterhaltsame Lesereise“ sozusagen um die Welt: Von Indien, wo Burton Offizier war, folgt Trojanow dem „Pilger“ Burton nach Mekka und bricht schließlich mit ihm zu einer Ostafrika-Expedition auf. „Ein Werk voller Abwechslung und Fernweh, das auch in seinen Nebenfiguren eine hohe literarische Kraft entfaltet“, so Daniel Leis.

Der Weltensammler

Richard Francis Burton muss ein interessanter Mann gewesen sein. Polyglott, neugierig, von rascher Auffassungsgabe, begeisterte er sich für fremde Sprachen und Kulturen. Ein Abenteurer und echter Grenzgänger, der in der Epoche kolonialer Expansion bereit war, seine eigene kulturelle Prägung, nämlich die englische des 19. Jahrhunderts, zu hinterfragen. Das ist viel in einer Welt, die sich überlegen fühlt; überlegen den unterworfenen Völkern des eigenen Kolonialreiches, aber auch anderen Kulturen, die die Meere beherrscht und selbst nicht davor zurückschreckt, etwa das Jahrtausende alte Chinesische Reich zu demütigen.

Burton zweifelte vielleicht nicht die Vorrangstellung Englands an, aber er war bereit, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und sich in Situationen zu begeben und Menschen zu begegnen, für die die allermeisten seiner Landsleute dieser Zeit nur offene Verachtung übrighatten. Er war aber auch Autor, Übersetzer und Selbstdarsteller, der seine Erlebnisse zu vermarkten wusste.

Kein Wunder also, das er immer wieder Gegenstand von Romanen und Filmen wurde. Auch Ilija Trojanow hat ihn zum Protagonisten eines Romans gemacht. „Der Weltensammler“ greift dabei drei Episoden aus Burtons Leben heraus. Sein Aufenthalt in Indien als junger Offizier der Britischen Ostindien-Kompanie, die Pilgerfahrt nach Mekka, die er als angeblicher Muslim unternahm, und die Ostafrika-Expedition, die er von Sansibar zusammen mit John Hanning Speke unternahm, um die Quellen des Nils zu finden. Trojanows Roman erschien 2006, ist also nicht ganz taufrisch. Womöglich kennen Sie das Buch, falls nicht, sind Sie zu beneiden, denn dann liegt eine der schönsten Lektüreerfahrungen noch vor Ihnen.

Wieso? Nun, es ist Ilija Trojanow nicht um eine Biographie zu tun, auch wenn er sich sehr genau eingelesen hat, er versucht vielmehr die Erfahrung der Fremdheit und die Neugier auf andere Kulturen einzufangen. Dies erreicht er durch verschiedene Blickwechsel. So begleitet er nicht nur Burton, den er als von dem Wunsch getrieben beschreibt, einzutauchen in das Fremde, zu verstehen, ja, ein anderer zu werden oder zumindest so zu fühlen, sondern er führt auch Zeugen an, die von ihrer Begegnung mit Burton Rechenschaft ablegen. Dabei schafft Trojanow Gesprächsrunden, die ihre eigene Sichtweise auf die Person Burtons darlegen. Das alles ist sprachlich herrlich formuliert und intelligent komponiert.

Das Buch beginnt mit einem Prolog, der Schilderung des Todes von Richard Burton in Triest. Und hier zeigt sich schon der unterschiedliche Blick auf die Ereignisse, die durch die Wahrnehmung des Priesters, der die letzte Ölung vornimmt, und durch die Hausangestellten erzählt werden.

Der erste Teil widmet sich dann den 1840er Jahren in Indien. Burton kommt nach viermonatiger Überfahrt dort an. Er entdeckt eine fremde, ja eine befremdende Welt. Auf den ersten Blick scheint diese unverständlich, aus europäischer Warte, abstoßend, chaotisch, schmutzig. Die länger Anwesenden warnen ihn denn auch: „Am Besten, Sie halten sich von allem Fremden fern!“

Dies aber beabsichtigt Burton keineswegs. Anders als seine Landsleute, die lieber unter sich bleiben wollen, ist er fasziniert und beginnt einzutauchen, er findet einen Diener, eine Geliebte, einen Lehrer. Er erlernt Gujarati und Hindi, Marathi und Sanskrit, er beschäftigt sich mit Religion und Spiritualität, er lernt das Kamasutra kennen, dessen erste englische Übersetzung er später herausgeben wird. Schließlich wird Burton in Camouflage als Spion tätig und scheint in dieser Aufgabe völlig aufzugehen. Zugleich entfremdet sie ihn von seinen Auftraggebern.

Die Geschehnisse werden im Wesentlichen aus Burtons Erfahrungen und den Schilderungen seines Dieners erzählt, der sie, nachdem er aus Burtons Diensten ausgeschieden ist, einem Schreiber erzählt, der ihm ein Empfehlungsschreiben für die englischen Offiziere aufsetzen soll. Der Schreiber seinerseits ist von der Geschichte fasziniert, er wittert einen großen Stoff, den er verarbeiten möchte, um so als Dichter wahrgenommen zu werden. Eine reizvolle Nebenfigur. Ob sich Trojanow hier selbst wiederfand?

Der zweite Teil des Buches berichtet von der Pilgerfahrt nach Mekka, die Burton 1853 unternahm. Hier gibt er sich als Arzt aus. Einer Rolle, mit der er zunächst in Kairo reüssiert, wo er in einer Karawanserei auf Weiterreise wartet. Er schließt Freundschaft mit einem Händler, der ihm wichtige Hinweise zu seinem Auftreten gibt, und findet einen Lehrer, der seine Kenntnisse der Koranauslegung verbessert. Im weiteren Verlauf seiner Reise trifft er auf Weggefährten, mit denen er eine feste Reisegesellschaft eingeht. Der Pilgerfahrt mit ihren Gefahren und Beschwernissen wird ebenso eindrücklich geschildert wie die Stätten, die die Pilger besuchen und die Rituale, die sie vollziehen.

Flankiert wird diese Erzählung durch die Schilderungen einer Reihe von Befragungen, die die osmanische Obrigkeit durchführt. Nachdem Burton seine Erlebnisse publiziert hatte, vermutete man hinter der Reise eine Spionagetätigkeit, und so befragen der Gouverneur des Hedschas, der Sharif von Mekka und der oberste Richter die Reisegefährten. Trojanow gelingt es meisterlich, eine Untersuchung zu beschreiben, bei der unterschiedliche Sichtweisen auf die Person Burtons, die blumige Rede und orientalische Höflichkeit amüsante Szenen generieren.

Der dritte Teil beschreibt die 1857-59 durchgeführte Afrikaexpedition, die Burton mit John Hanning Speke unternahm, um die großen Seen zu erkunden und die Quellen des Nils zu finden. Eine beschwerliche Wanderschaft durch eine kaum erforschte Gegend. Durch Wüsten und Dschungel, von Dorf zu Dorf. Man streift durch eine wilde Natur, die kaum durch Zivilisation gebändigt wurde, hat Begegnungen mit Kulturen, auf die man sich nicht vorbereiten kann, da niemand je Zeugnis von ihnen ablegt hat. Eine Verbindung zu den bekannten Welten stellen lediglich Begegnungen mit arabischen Sklavenhändlern dar. So wird die Expedition mehr und mehr zu einer Odyssee, die man nicht begreifen kann. Entfremdung kennzeichnet auch das Verhältnis von Speke und Burton, die sich während der Reise immer weniger zu sagen haben.

Nur für ein Expeditionsmitglied wird die Reise zu einer Heimfahrt. Der einheimische Führer der Karawane, Sidi Mubarak Bombay, ein Yao, der als Knabe von Sklavenjägern gefangen genommen und nach Indien verbracht wurde, findet durch die Expedition die Gegenden seiner Kindheit und zur Spiritualität seiner Ahnen. Der Leser partizipiert an seinen Erinnerungen, die er als alter Mann im Hof seines Hauses auf Sansibar mit seinen Freunden teilt.

Das Buch klingt aus, wie es begann, mit einem Epilog in Triest. Es bewegt sich zwischen den Genres, wie sein Protagonist zwischen den Welten. Ein Werk voller Abwechslung und Fernweh, das auch in seinen Nebenfiguren eine hohe literarische Kraft entfaltet.


Literaturhinweise

  • Ilija Trojanow, Der Weltensammler, Hardcover, 480 Seiten, Carl Hanser Verlag, 2006
  • Ilija Trojanow recherchierte sehr sorgfältig auf mehreren Kontinenten, um diesen Roman zu schreiben. Den Bericht über dessen Entstehung und seine Recherchen hat er als eigenes Buch herausgebracht.
  • Ilija Trojanow: Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton, Frankfurt 2007

Bildnachweis:

Titelbild: pixabay, gemeinfrei
Buchcover: Ilija Trojanow, Der Weltensammler
© 2006 Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München

1. Juli 2020 || ein Beitrag von Daniel Leis, Kunsthistoriker und Historiker

Er leitete die Ferienakademien „Flanderns Städte. Flanderns Schätze“ (Februar 2020). Die geplanten Ferienakademien an die Côte d’Azur (April 2020) sowie an die Loire (September 2020) unter seiner Leitung mussten leider verschoben werden.