Der Beat der Wildnis: Gary Snyder zum 90. Geburtstag

In der amerikanischen Literatur ist die Natur – insbesondere die wilde, vom Menschen unberührte Natur – ein zentrales Sujet. Mit ihm verbunden sind Autoren, deren Namen jeder zumindest aus Peter Weirs Spielfilm „Der Club der toten Dichter“ kennt: Walt Whitman, Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson. Während diese Männer im 19. Jahrhundert lebten, ist die Tradition, in der sie stehen, bis heute nicht abgerissen. Dies zeigen etwa John Williams‘ Roman „Butchers Crossing“ oder die Romane, Gedichte und Essays des schreibenden Landwirts und Umweltaktivisten Wendell Berry. In der gleichen Reihe steht Gary Snyder, der in seinem Werk aber auch Impulse aus der amerikanischen Beat-Literatur und der ostasiatischen Dichtkunst und Philosophie einbezieht.

Ein Leben zwischen Ost und West

Gary Snyder, der sowohl britische als auch deutsche Vorfahren hat, wird am 8. Mai 1930 in San Francisco geboren und wächst auf Farmen an der amerikanischen Westküste auf. Dort verbringt er viel Zeit in den Wäldern und Bergen und lernt früh die Kultur der Ureinwohner kennen. Mit einem Stipendium kann Snyder am Reed College in Portland (Oregon) Anthropologie und Literaturwissenschaft studieren. Bereits als Student veröffentlicht er erste eigene Gedichte und freundet sich mit den älteren Dichtern Lew Welch und Philip Whalen an. Über diese beiden College-Freunde findet Snyder, nachdem er sich einige Jahre als Waldarbeiter durchgeschlagen hat, Anschluss an die „Beat-Szene“ in San Francisco. Dort nimmt er im Oktober 1955 an der legendären Dichterlesung in der Six Gallery teil, bei der Allen Ginsberg erstmals sein monumentales Gedicht „Howl“ vorträgt. Als „Japhy Ryder“ verewigt ihn Jack Kerouac, einer der Köpfe der Beat-Szene, in seinem Roman „The Dharma Bums“ (auf Deutsch bei Rowohlt unter dem Titel„Gammler, Zen und hohe Berge“ erschienen).

Trotz des begeisterten Zuspruchs, den Snyder bei den Beat-Dichtern erfährt, hält er sich stets etwas abseits von derem ausschweifenden Leben. Stattdessen widmet er sich in San Francisco dem Studium der ostasiatischen Sprachen, Kulturen und Denkweisen. Große Teile der 1950er und 1960er Jahre verbringt Snyder dann als Schüler in japanischen Zen-Klöstern. Rechtzeitig im von den Hippies ausgerufenen „Sommer der Liebe“ ist Snyder aber zurück in Amerika und diskutiert mit den Granden der Gegenkultur über die Entstehung einer neuen Gesellschaft.

Lyrik als Lobby der Natur

Auch als Dichter ist Snyder in diesen Jahren tätig, veröffentlicht mehrere Lyrikbände und findet mit seinen Werken Eingang in die von Walter Höllerer und Gregory Corso herausgegebene Anthologie „Junge Amerikanische Lyrik“. Für sein Buch „Turtle Island“ („Schildkröteninsel“) erhält Snyder 1975 den Pulitzerpreis; 1986 wird er auf eine Professur an der University of California berufen. Lyrik und Prosa spiegeln die Breite von Snyders Interessen wider, die von den Kulturen der amerikanischen Ureinwohner und Ostasiens, über religiöse Praktiken und Naturphänomene bis zur Kritik der modernen Industriegesellschaft und Fragen des Landlebens reichen. Im Zentrum seines Denkens und Dichtens steht dabei die Kluft zwischen Natur und Kultur, zu deren Überwindung Snyder beitragen möchte. Dabei bedient er sich insbesondere in seinen Gedichten einer Sprache, die zugleich für ihre Einfachheit und Komplexität gerühmt wird. Einen guten Eindruck vermittelt etwa das Gedicht „Vögel bestimmen“, das 2015 in der „Frankfurter Anthologie“ der FAZ vorgestellt wurde. Was man für harmlose Naturlyrik halten könnte, wird im Kontext von Snyders Leben und Werk politisch: Nur in der Lyrik, so der Dichter, habe die Natur eine Lobby.

In den letzten Jahren hat Gary Snyder auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit erfahren. So wurde seine 2011 auf Deutsch erschienene Essaysammlung „Lektionen der Wildnis“, die als wichtiger Impuls für die moderne Umweltbewegung gilt, sehr positiv aufgenommen. Der Deutschlandfunk sendete 2014 mit dem Hörspiel „Kann Lyrik die Welt retten?“ ein Porträt des Dichters, und erst kürzlich veröffentlichte der Münchner Wissenschaftler Martin Spenger die erste Biografie Snyders, die insbesondere dessen Verbindung zur amerikanischen Umweltbewegung beleuchtet.

Heute feiert Gary Snyder, der in San Francisco lebt, seinen 90. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!

Bilder:
Mt. Tamalpais, Kalifornien. Bild von Sergio Casillas auf Unsplash, gemeinfrei
Kinkaku, Kyoto. Bild von Tianshu Liu auf Unsplash, gemeinfrei
Gary Snyder, 2014, Bild von Larry Miller auf Flickr, gemeinfrei

8. Mai 2020 || Beitrag von Dr. Matthias Lehnert, Referent Forum: PGR