Der Traum ist vorbei

Die Mutter aller Benefizkonzerte und ihre Geschichte. Zweiter Teil.

Im Sommer 1971 hatte die sogenannte Pop-Musik ihre Unschuld verloren. Biblisch gesprochen könnte man sagen: Irgendwann in den 1960er Jahre muss die populäre Unterhaltungsmusik vom Baum der Erkenntnis gegessen haben und war aus dem Garten Eden kindlicher Spielfreude verbannt worden sein.

Zehn Jahre zuvor hatte beiderseits des Atlantiks noch alles harmlos ausgesehen und geklungen: Im Juni 1961 hatten ein paar Jungs aus Liverpool den Sänger Tony Sheridan bei Plattenaufnahmen in der Aula des Hamburger Friedrich-Ebert-Gymnasiums begleitet. Derweil war der G.I. Elvis Presley vom Wehrdienst aus dem hessischen Bad Nauheim in die USA zurückgekehrt, wo er nun schmalzige Liebesballaden aufnahm und als Schauspieler in eher oberflächlichen Hollywood-Filmen dilettierte. Aber nur wenige Jahre später wandelte sich das Bild radikal: Der junge Amerikaner Robert Zimmerman führte als Bob Dylan den politischen Protestsong mit der Rock-Musik zusammen, die englische Band The Rolling Stones spielte einen unterschwellig aggressiven Rhythm and Blues, und die vier Jungs aus Liverpool stießen als Beatles mit ihrem Meisterwerk Sgt. Peppers Hearts Club Band in völlig neue Sphären der westlichen Unterhaltungsmusik vor.

Doch auf den berühmten „Summer of Love“ folgte die jähe Ernüchterung. Das Woodstock-Festival im August 1969 markierte zugleich den Höhe- und Endpunkt der Hippiebewegung: Während Musiker und Fans im Schlamm von Max Yasgurs Farm und im Morast des Drogenrauschs versanken, war die Gegenkultur schon zum Investitionsobjekt findiger Venture-Kapitalisten verkommen.

Nur eine Woche zuvor hatten Mitglieder einer Hippie-Kommune um Charles Manson die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate und sechs weitere Menschen in Los Angeles bestialisch ermordert. Manson gab später zu Protokoll, auf Veranlassung von Geheimbotschaften gehandelt zu haben, die ihm über den Beatles-Song „Helter Skelter“ übermittelt worden seien.

Es folgte wenige Monate später der Horror von Altamont: Bei einem Konzert der Rolling Stones kamen insgesamt vier Menschen ums Leben. Ein junger Afroamerikaner wurde unmittelbar vor der Bühne von den als Ordnern eingesetzten Hells Angels erstochen. So endeten die 1960er Jahre in jenem Desaster, vor dem besorgte Eltern und konservative Moralapostel immer gewarnt hatten. Auch unter den Musikern forderte der notorische Rock’n’Roll-Lifestyle seinen Tribut: Brian Jones, ausrangierter Frontmann der Rolling Stones, war schon im Juli 1969 unter bis heute ungeklärten Umständen gestorben. Im Herbst 1970 folgten Jimi Hendrix und Janis Joplin, die beide noch in Woodstock aufgetreten waren, und im Juli 1971 dann Jim Morrison, der Kopf der amerikanischen Band The Doors. Die einst unzertrennlichen Beatles entzweiten sich nicht zuletzt über handfesten finanziellen Streitfragen und lösten sich im Frühjahr 1970 auf.

Freilich: Trotz dieser Tragödie der Desillusionierung entstanden in jenen Jahren Meisterwerke der modernen Musik: Das Spätwerk der Beatles steht ungebrochen in hohem Ansehen und wird in diesem Sommer Gegenstand eines mit Spannung erwarteten Dokumentarfilms von Peter Jackson („Der Herr der Ringe“) sein. Die Rolling Stones erlebten die vielleicht stärkste Schaffensperiode ihrer langen Karriere. Und L.A. Woman, das letzte Album der Doors, ist ein düster-dräuender Schwanengesang.

Dennoch schien die Rock-Musik während des sommerlichen Hippietraums irgendwo falsch abgebogen zu sein. Die hochfliegenden Phantasien der Künstler, die glaubten, mit einem eklektischen Programm aus politischem Engagement, transzendentaler Meditation, bewusstseinserweiternden Drogen, freier Liebe und anarchistischer Selbstorganisation die Welt verändern zu können, waren zerstoben.

Das politische Engagement verkam zur klassenkämpferischem Pose, die angesichts des beträchtlichen Reichtums der Rockstars äußerst fragwürdig erschien. Fernöstliche Meditationspraktiken erwiesen sich entweder als kurzlebige Mode oder führten zu abgehobener Weltflucht. Aus anfänglich durchaus stimulierenden Drogenexperimenten waren Exzesse geworden, die auch bei vielen Überlebenden – etwa dem Gitarrenvirtuosen Eric Clapton oder seinem Bandkollegen Jim Gordon – zu künstlerischer Stagnation und nachhaltiger physischer und psychischer Zerrüttung führten.

Die vielfach propagierte freie Liebe entpuppte sich als Chimäre, wovon nicht zuletzt die wohl berühmteste Dreiecksbeziehung der Pop-Geschichte – Eric Claptons selbstzerstörerische Liebe zu Pattie Boyd, der Ehefrau seines Freundes George Harrison – beredt Zeugnis gibt (wenngleich diese immerhin zur Entstehung des meisterhaften Bluesrock-Albums Layla and other assorted love songs von Claptons kurzlebiger Band Derek and the Dominos führte …). Und das wohl größte Experiment einer alternativen Kreativwirtschaft, der 1968 von den Beatles gegründete Unterhaltungskonzern Apple Corps, erwies sich als chaotischer Selbstbedienungsladen für Scharlatane, bis der knallharte Geschäftsmann Allen Klein das Ruder übernahm.

Am Ende seines ersten Soloalbums aus dem Jahr 1970 zog John Lennon als Stimme seiner Generation ernüchtert Bilanz:

The dream is over
What can I say?
The dream is over
Yesterday

I was the dreamweaver
But now I’m reborn
I was the walrus
But now I’m John
And so, dear friends
You’ll just have to carry on
The dream is over

Der Traum ist vorbei, Freunde. Ihr müsst irgendwie weitermachen, aber der Traum ist vorbei.

Irgendwie weitermachen – nur wie?

In dieser fragwürdigen Lage befindet sich also die Rockmusik im Sommer 1971. Da klingelt bei einigen der größten ihrer Stars das Telefon. In der Leitung ist: Ex-Beatle George Harrison. Er hat einen Plan und bittet um Hilfe …

Den dritten und letzten Teil der Geschichte lesen Sie morgen hier im Blog.

Bilder

Das Woodstock-Festival im August 1969, James M Shelley via Wikimedia commons CC BY-SA 4.0

Die Beatles in Hamburg, ganz links George Harrison, 1961, Diego Sideburns auf Flickr (CC BY-NC-ND 2.0)

Plakat des Woodstock-Festivals 1969, David auf Flickr (CC BY 2.0)

Yoko Ono und John Lennon im Klassenkampf 1971, Brandon Carson auf Flickr (CC BY 2.0)

30. Juli 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert