Eine ganze Generation verloren-Bericht aus der Stadt Przemysl-Mehr im Blog der Akademie

Alt, krank und sterbend auf der Flucht

Der Konflikt um die Ukraine geht nun bereits in den neunten Monat. Ein Waffenstillstand, eine Befriedung oder gar ein Ende des Krieges sind nicht in Sicht. Beide Seiten halten an ihren Positionen fest, ungeachtet des drohenden Winters mit Kälte, Frost, Not, Mangel und Leid.

Unabhängige Berichte rund um die Auseinandersetzung sind rar. Umso wertvoller ist die persönliche Anschauung zumindest aus nächster Nähe, dem polnischen Grenzgebiet zur Ukraine.

Dr. Markus Ingenlath, Mitglied der Geschäftsführung von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, war vom 13. bis 16.10.2022 im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet, in der Stadt Przemysl.

Hier lesen Sie Teil 1.

Bericht aus Przemysl - Renovabis

Griechisch-katholische Schwestern lindern die Not der oft Vergessenen

Einen anderen wichtigen Dienst verrichten die griechisch-katholischen Dienenden Schwestern: Sie haben in ihrem Ökumenischen Zentrum der Alten- und Krankenpflege in Przemysl alte und pflegebedürftige Menschen aus der Ukraine aufgenommen und pflegen sie liebevoll. Alle Schwestern haben eine medizinische Ausbildung und werden in ihrer Arbeit unterstützt durch 40 Laienangestellte. Die geflüchteten Bewohner, mit denen kurz gesprochen werden konnte, betonen, dass sie in Przemysl ein „neues Leben“ beginnen konnten. Besonders beeindruckend ist die Station der Palliativpflege für schwer an Krebs erkrankte Patientinnen und Patienten aus der Ukraine, die in ihrem Land zurzeit keine guten Voraussetzungen finden: Im engsten Kreis konnte ein Gespräch mit Irina (Name geändert) geführt werden, die zwar ihre Familie in Charkiv zurücklassen musste, aber täglich telefonisch in Verbindung steht und unter der Obhut der Schwestern neuen Mut gefasst hat, immer wieder das Gehen übt und sogar Fortschritte macht. Die Herausforderung für die Schwestern: Für Patientinnen wie Irina gibt es keinerlei Erstattung eines Kostenträgers, für die älteren Bewohnerinnen und Bewohner des Seniorenheims nur einen geringen staatlichen Zuschuss. Zugleich steht das Haus wie alle anderen vergleichbaren Träger in Polen unter dem Druck von 17 Prozent Inflationsrate.

Bewährte Manager in Kriegssituationen – die römisch-katholische Caritas im Verbund mit anderen

Die römisch-katholische Caritas schließlich ist ein Schwergewicht unter den kirchlichen Hilfsdiensten in der Stadt und Region Przemysl. Sie arbeitet eng mit dem Humanitarian Aid Centre und anderen Caritas Organisationen wie etwa Caritas International weltweit zusammen.

Die interkirchliche Zusammenarbeit scheint im Übrigen sehr gut zu laufen: Der Caritas-Direktor und der griechisch-katholische Seelsorger beim polnischen Grenzschutz arbeiten nach beider Angaben „hervorragend“ zusammen, wenn es darum geht, LKWs mit Hilfstransporten aus Polen über die Tücken und Fußangeln beim Zoll an der EU-Außengrenze zur Ukraine zu geleiten. In diesem Moment bekommt die Delegation eine Ahnung, was Katholizität alles bedeuten kann…. Kritisch dagegen die Aussagen des – seit 1907 bestehenden – ukrainischen Kulturzentrums in Przemysl, das mit 800 Ehrenamtlichen (bis 24.2. 70!) insgesamt 5000 Übernachtungen organisierte: Auf die Frage nach der Zusammenarbeit mit den Kirchen bleiben sie äußerst zurückhaltend, obwohl sie Räumlichkeiten von der griechisch-katholischen Erzdiözese für einen symbolischen Zloty vermietet bekamen, in ihren Augen allerdings im renovierungsbedürftigen Zustand. Hier bleibt ein Widerspruch.

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Die Angst ist weg – ein (zufälliger) Frontbericht „von unten“

Wie geht es weiter? Folgt man Dmitrij (Name geändert), der mit seiner Familie auf einem kurzen Fronturlaub in Przemysl ist und in wenigen Tagen zurück in die Ukraine fährt, so ist die „zweitgrößte Armee der Welt“ in den Augen der ukrainischen Soldaten entzaubert, die Angst vor den russischen Soldaten ist verschwunden. Er ist zufällig auch als Gast im Bildungshaus „Effata“ der Dienenden Schwestern und gibt während eines Frühstücks bereitwillig Auskunft: Die Monate Februar bis April seien sehr schwierig gewesen, man habe vieles improvisieren müssen – er selbst musste sich als eigentlich dienstuntauglicher Soldat in der Territorialverteidigung freiwillig melden und sich für 600 Euro eine Grundausstattung einschl. Kalaschnikow, Schlafsack etc. kaufen. Er präsentiert im gleichen Atemzug treuherzig seinen – zeitlich bis 2023 befristeten – Waffenschein, um die Legalität seines Handelns zu unterstreichen. Die Notwendigkeit zu kämpfen habe er keinen Moment bezweifelt: Fast anrührend die Geschichte von seiner Begegnung mit einem alten polnischen Mann am Flughafen Lviv, wo er am 24.2.2022 als Angestellter in der Flugsicherheit arbeitete. Der Pole habe ihm gesagt: „Geh kämpfen, bring Deine Familie vorher noch zu uns in Sicherheit, wir passen auf sie auf, aber dann geh und kämpfe.“ Die Entschlossenheit habe sich bei ihm noch verstärkt, als er mit Kameraden nach den Kämpfen in Irpin und Butscha ein russisches Graffiti in einem stark geplünderten und zerstörten Haus entdeckt habe: „Wer hat euch erlaubt, so gut zu leben?“. Ein halbes Jahr später ist Dmitri zusammen mit seinen Kameraden (darunter auch zwei Russen aus den „Freien Russischen Streitkräften“ – Deserteure und Überläufer, die in Bataillonsstärke mit eigener Fahne unter ukrainischem Kommando kämpfen) überzeugt: Es dauere nicht mehr lange, bis die russische Armee geschlagen ist. Dafür gebe es viele Anzeichen wie der Zustand des eroberten russischen Materials, die Aussagen von Gefangenen und die langsamen, aber unaufhaltsamen eigenen Fortschritte bei der Rückeroberung des besetzten Gebietes. Er sei dem Westen und auch Deutschland dankbar für das bisher gelieferte Gerät, so müsse man nicht mehr, wie in den ersten Wochen, unter Lebensgefahr die russischen Kolonnen von der Seite aus dem Schutz von Wäldern mit Gewehren angreifen, sondern könne feindliche Kolonnen über 40 oder 50 Kilometer Entfernung auf Distanz bekämpfen. Im Augenblick seien weitere Luftabwehrkomponenten wichtig, damit sich ein Tag wie der 10. Oktober nicht wiederhole, wo man 70 Prozent der angreifenden Raketen, Flugzeuge und iranischen Kamikaze-Drohnen habe abwehren können, die Abwehr der restlichen 30 Prozent aber schlicht am fehlenden Material in der Fläche gescheitert sei: Der Gegner ist mit seinen Fluggeräten in den für ihn typischen „Angriffswellenbewegungen“ an verschiedenen Stellen durchgebrochen. Für die Ukraine gebe es insgesamt „keine Alternative“ zum Sieg und zur vollständigen Befreiung des besetzten Territoriums.

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Zusammenfassung

Insgesamt fällt der Delegation auf, dass die allermeisten Beteiligten zurzeit in einer Art Tunnel sind, ein Zustand, in dem sie die großen täglichen Herausforderungen meistern müssen. Es wird viel geleistet und auf einem hohen professionellen Niveau gearbeitet. Die Notsituation vermag es zumindest auf lokaler und regionaler Ebene, dass vorher vorhandene gesellschaftliche Gräben zwischen Parteien, Kirchen und Organisationen in einer durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeichneten Region für einen Moment zugedeckt werden. Die Zeit wird es zeigen, wie nachhaltig dies ist.

Insgesamt fällt es auf, dass die Sorgen und Bedenken in Deutschland beinahe größer als die der Menschen vor Ort sind. Viele strahlen eine ernste, jedoch ruhige Entschlossenheit aus, auch wenn man noch am 10. Oktober die Einschläge von Raketen im Raum Lviv bis in die Stadt Przemysl hören konnte. Aber vielleicht kommt es daher, dass die Menschen in diesem Teil Europas die Angst vor dem Aggressor, die sie jahrzehntelang verspürten, langsam zu verlieren beginnen – ein „1989 reloaded“.

  1. Herzlicher Empfang bei den g.k. Dienenden Schwestern: Renovabis hat das ökumenische Zentrum der Alten- und Krankenpflege von Anfang an gefördert, alle hier arbeitenden Schwestern haben medizinische Ausbildung.
  2. Einer der geflüchteten alten Menschen aus Charkiv, die von den Dienenden Schwestern liebevoll in Przemysl aufgenommen wurde, ist Künstler und Karikaturist – hier mit Agnieska, unserer unentbehrlichen Sprachmittlerin!
  3. Eine Karikatur des Künstlers, die in Przemysl entstanden ist: Ein Mistkäfer (Gesicht Putin, auf dem Rücken ein „Z“, das russische Erkennungszeichen im Krieg) krabbelt aus einem großen Sch…haufen auf die ukrainische Grenze zu!
  4. Ein besonderer Gast war Dmitrij (hier mit der Leiterin des Hauses „Effata“, mit Agnieska und dem Ökonom der g.k. Diözese Przemysl-Warschau), der ein paar Tage Fronturlaub mit seiner Familie genommen hatte und auch mit uns Gottesdienst feierte. „Die Angst vor der zweitstärksten Armee der Welt ist bei uns verflogen“ – sagt er und lacht!

8. November 2022 || ein Bericht von Dr. Markus Ingenlath, Mitglied der Geschäftsführung von Renovabis

Dr. Markus Ingenlath