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Chancen und Perspektiven ungleicher Koalitionen ‒ Regierungsbildung 2021 – Teil I

Demokratien, die ein Verhältniswahlrecht haben, tun sich zumeist schwer mit der Regierungsbildung. In Italien oder Spanien gingen fragile Bündnisse oder kurzlebige Minderheitsregierungen aus nationalen Parlamentswahlen hervor; in den Niederlanden dauerte es zehn Monate, bis endlich eine Vier-Parteien-Koalition zustande kam. Auch in Deutschland sind Koalitionsverhandlungen durch die Erweiterung des Parteiensystems seit den 1980ern Jahren schwerfälliger, zeitraubender und konfliktreicher geworden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik lassen die Mehrheitsverhältnisse nach der Bundestagswahl nur eine Dreierkoalition zwischen den im Parlament vertretenen Parteien zu. Das Wahlergebnis erzwingt ein Regierungsbündnis zwischen drei ungleichen Partnern.

Nach den Bundestagswahlen 2017 war der erste Anlauf zur Bildung einer Dreierkoalition aus CDU, Grünen und FDP auf den letzten Metern gescheitert. Es blieb nur die politische Option einer weiteren Neuauflage der ungeliebten Großen Koalition, der bereits dritten unter der Kanzlerschaft Angela Merkels. Die beiden Bündnispartner CDU/CSU und SPD standen sich mit Ausnahme der Regierung Kiesinger/Brandt von 1966 bis 1969 bis 2005 stets als Regierung und parlamentarische Opposition gegenüber. Nicht nur, dass sich die dritte Große Koalition unter Merkel durch die Legislaturperiode mehr quälte als regierte ‒ das Bündnis zehrte auch an der Substanz der beiden Volksparteien, programmatisch wie personell. Die traditionsreiche SPD hatte als kleinerer Koalitionspartner so weit abgewirtschaftet, dass sie im Frühjahr 2021 die Bundestagswahl bereits verloren gab. Ihr Niedergang schien unaufhaltsam: eine in Flügelkämpfen zerrissene Fraktion; entmutigte Abgeordnete, oft ohne Rückhalt im Wahlkreis; eine zutiefst enttäuschte »Basis« und eine Parteijugend, die offen gegen die Fortsetzung der Koalition mit der CDU/CSU rebellierte. Aber auch die größere Regierungspartei zahlte einen hohen Preis für die Fortsetzung des ungleichen Bündnisses. Wie sehr auch das politische Profil der CDU/CSU gelitten hatte, wurde erst mit der Demission der populären Kanzlerin deutlich. Durch politische Kompromisse »sozialdemokratisiert« und programmatisch entkernt, flüchtete sich die CDU/CSU in die Bundestagswahl 2021. Die Hoffnung, als »geborene« Regierungspartei in einer neuen politischen Koalition die Führung übernehmen zu können, erwies sich als trügerisch. Eine schlecht orchestrierte Kanzlerkandidatur und ein misslungener Wahlkampf genügten, um den sicher erwarteten Wahlsieg zu verspielen. Binnen weniger Wochen büßte die CDU/CSU ihren komfortablen demoskopischen Vorsprung ein und stürzte auf das Niveau ihres früheren Koalitionspartners ab. Während sich die Stimmenverluste bei der CSU in Grenzen hielten, hatte die CDU nahezu ein Drittel ihrer Wählerschaft von 2017 verloren. Für das Ausmaß der Wahlniederlage der konservativen Volkspartei konnten weder die Kampagne noch der Kandidat alleine verantwortlich gemacht werden.

Seit den Bundestagswahlen 2021 steht die Frage im Raum, ob die Ära zweier um die Regierung konkurrierender Volksparteien an ihr Ende gelangt ist, ob sich wie in fast allen Ländern Europas nun auch in Deutschland ein volatiles Mehrparteiensystem etabliert hat? Werden unübersichtlich gewordene politische Kräfteverhältnisse mit nahezu gleich schwachen und zudem bündnisunwilligen Parteien die Bildung stabiler Regierungen dauerhaft erschweren? Unter der allgemeinen Anspannung der Nerven in einer akuten und zugleich persistenten Pandemie wächst die Sorge vor einer Vertrauens- und Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie. Für den wissenschaftlichen Beobachter stellt sich aber zunächst die Frage, welche Veränderungen der politischen Kultur und der parlamentarischen Praxis ein sich weiter ausdifferenzierendes Mehrparteiensystem erwarten lässt.

Ein historischer Vergleich mit dem Parlamentarismus der Weimarer Republik schärft den Blick für die Chancen und Risiken des politischen Umbruchs. Die Weimarer Demokratie hatte sich unter denkbar schwierigen Ausgangsbedingungen dennoch nach wenigen Jahren gefestigt. Diese Stabilisierung war vor allem auf den Kooperationswillen derjenigen Parteien zurückzuführen, die sich vorbehaltlos zur neuen politischen Ordnung der Weimarer Reichsverfassung bekannten. Häufig wechselnde Parteienbündnisse unter konstanter Beteiligung der Deutschen Volkspartei, katholischem Zentrum, Sozialdemokratie und Linksliberalismus bildeten die tragfähige Basis der erfolgreichen Jahre der Weimarer Republik von den Dezemberwahlen 1924 bis zum Ende der Großen Koalition unter Reichskanzler Hermann Müller (SPD) am 27. März 1930. Dass diese von gewaltbereiten Republikfeinden bekämpften Weimarer Regierungskoalitionen überhaupt zustande kamen, war alles andere als selbstverständlich. Die an ihnen beteiligten Parteien verband zunächst nur die gemeinsame Erfahrung der Opposition im Deutschen Kaiserreich. So hatte die konservative Regierung Bismarcks die liberale Fortschrittspartei wie das ultramontane Zentrum als politische Gegner bekämpft. Sozialdemokraten wurden unter dem »Sozialistengesetz« als »Reichsfeinde« verfolgt, die Partei verboten und ihre Anhängerschaft unter politische Quarantäne gestellt. Zwischen den auf die Parlamentarisierung der Monarchie drängenden politischen Strömungen hatten sich aber erst in den letzten Reichstagswahlen begrenzte Stichwahlbündnisse angebahnt. Liberalismus und Zentrum trennten nach wie vor die im Kulturkampf der 1870er Jahre aufgerissenen weltanschaulichen Gräben. Beiden Parteien stand die politisch ausgegrenzte revolutionäre Arbeiterpartei August Bebels unversöhnlich gegenüber. In der wilhelminischen Klassengesellschaft vertieften sich die Gegensätze zwischen bürgerlichem Lager und Arbeiterschaft weiter. Mitglieder und Anhänger der Parteien verschanzten sich in ihren lebensweltlich separierten Milieus.

Erst durch Krieg und Revolution gerieten die verhärteten Gesellschaftsstrukturen des Kaiserreichs in Bewegung. Niederlage und Revolution brachten 1918 neue Antagonismen und Allianzen hervor. An der Frage der Anerkennung des Versailler Vertrags und der Loyalität zur Weimarer Verfassung bildete sich schließlich eine fundamentale politische Scheidelinie zwischen Demokraten und Republikfeinden. Die Parteien der sogenannten »Weimarer Koalition« verband der Grundkonsens, die Bestimmungen des Versailler Vertrags nur auf friedlichem und legalem Weg zu revidieren oder zumindest erträglicher zu gestalten. Zentrum, DDP und SPD bekannten sich uneingeschränkt zur Reichsverfassung und waren im Ernstfall auch dazu bereit, diese per Ausnahmegesetzgebung (»Ermächtigung«) zu verteidigen. Gustav Stresemanns rechtsliberale DVP stand zu Lebzeiten des angesehenen Außenministers ebenfalls loyal zur Republik. Sie war am häufigsten dazu bereit, durch Regierungsbeteiligung politische Verantwortung zu tragen. Auf der Basis der Verfassungstreue konnte sich eine Arbeitsbeziehung auch zwischen denjenigen Politikern und Politikerinnen der vier Parteien entwickeln, die sich eher als »Vernunft«- denn als »Herzensrepublikaner« verstanden.

Voraussetzung des Funktionierens der Weimarer Koalitionen war, dass die Akteure Bündnisse zwischen ungleichen Partnern als Normalfall parlamentarischer Praxis akzeptierten. Dies schloss die Bereitschaft ein, politische Kompromisse nicht als Prinzipienverrat, sondern als notwendiges Korrelat heterogener Parteienkoalitionen aufzufassen. Das geschäftsmäßige Aushandeln von Interessen und Machtpositionen alleine reichte indes nicht. Persönliches Vertrauen zwischen Parteiführern wie Josef Wirth (Zentrum), Ludwig Haas (DDP), Gustav Stresemann (DVP) und Hermann Müller (SPD) musste entstehen. Diese politischen »Freundschaften« quer zu den Lagern sicherten die mitunter prekäre Machtbalance der Weimarer Koalitionen. Bis an den Vorabend der Weltwirtschaftskrise überstanden die Mehrparteienbündnisse Koalitionsbrüche und wechselnde Konstellationen mit zeitweise vier oder fünf Partnern. Der Historiker Thomas Mergel hat die auf Erfahrung und Lernkurven beruhende kooperative Alltagspraxis des Weimarer Parlamentarismus treffend als »Kultur des Weitermachens« beschrieben.

Welche schwerwiegenden Folgen der Bruch mit der politischen Kultur des Aushandelns und Aushaltens politischer Kompromisse hatte, ist bekannt. Die letzte von einer parlamentarischen Mehrheit getragene Reichsregierung, eine »Große Koalition« aus fünf Parteien unter Führung von Reichskanzler Müller, scheiterte vordergründig an der Streitfrage einer geringfügigen Erhöhung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung. Der Konflikt betraf in erster Linie das Verhältnis zwischen der eng mit der Industrie verbundenen DVP und der SPD. Beide Parteien schwenkten unter dem Erwartungsdruck ihrer sozialen Basis Ende der 1920er Jahre auf eine konfrontative Linie ein. Massenstreiks und Aussperrungen wie im Ruhreisenstreit 1928 waren Ausdruck zunehmender gesellschaftlicher Spannungen, die das Zweckbündnis der republikanischen Parteien belasteten. Tatsächlich hatte sich der Fundamentalkonsens verbraucht, substantielle Kompromisse zwischen ungleichen Konkurrenten einzugehen. Auch zwischen Sozialdemokratie und Zentrum waren auf zentralen Politikfeldern scheinbar unüberwindbare Differenzen aufgetreten: hinsichtlich des Umfangs materieller Absicherung gegen Erwerbslosigkeit und Bedürftigkeit, bei der gescheiterten Reichsschulreform wie bei der Neuregelung des Ehe- und Scheidungsrechts, in der Frage der Sanktionierung von Abtreibung und Prostitution oder der Tolerierung von Homosexualität ‒ um nur einige Konfliktthemen zu nennen. Die kulturell ebenfalls vom Zentrumsmilieu weit entfernte Klientel der DDP wiederum gab mehr und mehr liberale Positionen auf und öffnete sich nationalistisch-antisemitischer Agitation. Mit ihrer Auflösung und Neugründung als Deutsche Staatspartei versank mit der DDP eine der Stützen der parlamentarischen Demokratie in der politischen Bedeutungslosigkeit. Am Beginn der agonalen Phase der Republik hatten die Parteien der Weimarer Koalition die politische Bühne dem politischen Gegner überlassen. Durch ihren nachlassenden Kooperationswillen lieferten sie jenen extremistischen Agitatoren selbst die Argumente, die seit langem das »Versagen« der Parteiendemokratie an die Wand malten und einen autoritären Staat als politische Alternative propagierten. Das vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg geduldete permanente Notstandsregime der Präsidialregierungen von Brüning bis Schleicher, in der Reichsverfassung nur als Ausnahmesituation vorgesehen, erwies sich indes als Scheinlösung. Der antiparlamentarische Notbehelf überparteilicher Krisenbewältigung blieb eine erfolglose Episode, die den Durchbruch radikaler Kräfte erst ermöglichte.

Existentielle Gefährdungen wie diese hatte weder die Bonner Republik zu bestehen, noch sind sie in der Berliner Republik zu befürchten – auch wenn sich inzwischen eine rechtspopulistische, in Teilen extremistische Partei im Bundestag wie in den Ländern etabliert hat. Wie die Nationalsozialisten den Reichstag, so nutzt auch die AfD die parlamentarische Bühne, um vermeintliche Schwachstellen der parlamentarischen Demokratie bloßzulegen. Koalitionsverhandlungen zwischen ungleichen Partnern und der langwierige Prozess der Regierungsbildung bieten ihr Gelegenheit, alle Register des klassischen Antiparlamentarismus zu ziehen. Die als Ausnahme geltende Konstellation einer Großen Koalition war geradezu der Idealfall, um destruktive Systemkritik zu üben. Ein auf paritätische Verteilungslogik und proportionale Berücksichtigung von Gruppeninteressen angelegtes Regierungsprogramm machte es der Opposition leicht, populistische Klischees (»Hinterzimmerpolitik« und »Postenschacher«) zu mobilisieren.

Teil 2 erscheint am Mittwoch, 26. Januar 2022.

Bildnachweis:
Ort: Reichstagsgebäude, Plenarsaal, Berlin / Deutschland
aufgenommen: 15. Oktober 2021, 10:59 Uhr
Fotograf: Felix Zahn / photothek

19. Januar 2022 || ein Beitrag von Prof. Andreas Schulz, Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt a. Main sowie Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. in Berlin