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Chancen und Perspektiven ungleicher Koalitionen ‒ Regierungsbildung 2021 – Teil II

Die lange Dauer der Großen Koalition, deren Existenzberechtigung weder verfassungs- noch parlamentsrechtlich zu beanstanden ist, gibt dennoch Anlass für ernsthafte demokratietheoretische Einwände. Ein Argument ist, dass zwei Hauptakteure koalierten, die in der deutschen Demokratiegeschichte jeweils auf die Führungsrolle entweder in der Regierung oder der parlamentarischen Opposition festgelegt waren. Der für den Parlamentarismus essentielle Führungswechsel ist in England durch das Mehrheitswahlrecht institutionalisiert. In der Bundesrepublik funktionierte der alternierende Rollentausch der beiden stärksten Parteien jahrzehntelang auch unter den Bedingungen eines komplizierten Verhältniswahlrechts. Mit der Ausdifferenzierung des Parteiensystems seit den 1980er Jahren aber verlor zunächst die SPD ihre Integrationskraft als linke Volkspartei. Durch die Konkurrenz der Grünen und seit 1990 der PDS/Die Linke verschlechterten sich ihre Machtperspektiven. Vom Zwischenspiel der deutlich gewonnenen Bundestagswahl 1998 einmal abgesehen, büßte sie ihren angestammten Führungsanspruch auf die Regierung oder als stärkste Kraft der Opposition allmählich ein. Die Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU wurden so zur Überlebensfrage für die geschwächte Volkspartei SPD. Sie geriet zunehmend unter Zwang, den objektiven Bedeutungsverlust durch das Herausverhandeln politischer Konzessionen des stärkeren Partners zu kompensieren. Die Ergebnisse von Koalitionsverhandlungen wurden an der Besetzung von Kabinettsposten und symbolischen Markierungen des Koalitionsvertrags gemessen. Dies erhöhte den Druck auf die Unterhändler, selbst kleinste Zugeständnisse als politischen Erfolg zu verkaufen.

Ein zweites demokratietheoretisches Argument gegen die Perpetuierung Großer Koalitionen ist der Verlust programmatischen Profils der konkurrierenden Parteien. Ein kompetitives Parteiensystem sollte möglichst, so ein politikwissenschaftlicher Lehrsatz, gesellschaftliche Konfliktlinien (»cleavages«) widerspiegeln. Nur dann sei gewährleistet, dass in der Volksvertretung unterschiedliche Interessen repräsentiert sind und konträre Positionen zur Geltung kommen. Insbesondere die konservative Volkspartei sieht sich dem anhaltenden Vorwurf ausgesetzt, der Großen Koalition fundamentale Überzeugungen geopfert und dadurch traditionelle Wählermilieus demotiviert zu haben. Diese vordergründig plausible Erklärung übersieht den kausalen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und einem infolgedessen komplexer gewordenen Parteiensystem. So ist die Preisgabe zentraler Werthaltungen, wie sie beispielsweise das bürgerliche Leitbild der heterosexuellen Ehe für eine konservative Partei repräsentiert, durch den gesellschaftlichen Verhaltenswandel verursacht und nicht der Nachgiebigkeit gegenüber dem Koalitionspartner zuzuschreiben. Der gesellschaftliche Wertewandel und die Ausprägung vielfältiger Lebensstile stellen eine permanente Herausforderung für die Integrationskraft zweier Volksparteien dar, deren Programme und Parteiapparate noch in vielem auf die vertraute Welt kleinbürgerlicher und sozialdemokratischer Kernmilieus eingestellt sind. Im langen Schatten der Erfolgsgeschichte der beiden Volksparteien ließen die Resultate der Koalitionsverhandlungen tatsächlich neue Antworten und politische Orientierung vermissen. Es fehlte eine gemeinsame Erzählung, die das Bündnis zweier traditionsreicher wie ungleicher Partner im Kontext eines gesellschaftlichen Umbruchs überzeugend erklärte. Statt eines Reformprogramms aus einem Guss präsentierten die Parteien der Großen Koalition dem Publikum in Koalitionsverträgen verpackte Kleinprojekte, von denen kaum jemand Notiz nahm.

Auch die ungleichen Partner der 2021 gebildeten »Ampelkoalition« aus SPD, Grünen und FDP werden sich den ritualisierten Macht- und Verteilungslogiken parlamentarischer Regierungsbildung nicht entziehen können. Möglicherweise sind die programmatischen wie habituellen Differenzen sogar deutlicher ausgeprägt als bei der Großen Koalition. Doch zeichnet sich ab, dass die Akteure Schlussfolgerungen aus dem Wandel gesellschaftlicher Bedürfnisse gezogen haben, der sich in der Veränderung des Parteiensystems niederschlägt. Mehrparteienbündnisse sind keine Ausnahme mehr, wechselnde Machtoptionen der Normalfall. Koalitionen erfordern ein höheres Maß an Flexibilität, Kommunikation, Kompromiss- und Risikobereitschaft. Die schwierigste Lektion war die Einsicht, durchaus ungeliebte Partner nicht von vorneherein durch das Verkünden nicht verhandelbarer Positionen (»rote Linien«) zu entsprechenden Reaktionen zu veranlassen und das Gegenüber wie sich selbst dadurch zu blockieren. Sie zu beherzigen setzte die Anerkennung der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Werthaltungen voraus. Diese in der politischen Praxis nur schwer durchzuhaltende Selbstverpflichtung ist vom neuen Kanzler in die an sich selbstverständliche und daher konsensfähige Forderung gegenseitigen »Respekts« übersetzt worden. Vorerst ist dieses politische Versprechen durch eine neue Kommunikationsstrategie beglaubigt worden, die primär auf Dialog und Verständigung der Koalitionäre untereinander und in erster in zweiter Linie auf mediale Selbstdarstellung zielt. Der Verhandlungsprozess wurde dadurch erleichtert und beschleunigt.

Mit der Praxis parteipolitisch gefärbter Kommunikation haben die Koalitionsmanager zwar nicht völlig gebrochen, aber diese doch entscheidend modifiziert: Sie verzichteten weitgehend auf das lautstarke Verkünden politischer Verhandlungserfolge bereits während der Gespräche. Dieses ermüdende Ritual parteipolitischen Egozentrismus erschwerte objektiv das Regieren und prägte zuletzt das öffentliche Erscheinungsbild der Großen Koalition. Mit ihrer vorsichtigen Informationspolitik gegenüber den Medien haben die Neukoalitionäre ein erstes Etappenziel erreicht. Zumindest scheint es so, dass eine Vertrauensbasis gerade unter denjenigen Protagonisten und Akteurinnen entstanden ist, die sich in Habitus und Politikverständnis deutlich voneinander unterscheiden. Symbolische Anerkennung und Respekt, auch Emotionen sind durchaus Kategorien politischer Relevanz, wie neuere historische Forschungen belegen. Ein zweiter, im Hinblick auf manchen Beteiligten unerwarteter Effekt des neuen Verhandlungs- und Kommunikationsstils ist der Eindruck seriöser Professionalität, den die Dreierkoalition erzeugen konnte. Ob sich darin wirklich eine neue politische Kultur, oder lediglich pragmatische Lernbereitschaft abbildet, ist für das Ergebnis unerheblich.

Am Ende werden Koalitionen und Regierungen an ihrer Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sowie an der Akzeptanz ihrer politischen Ziele gemessen. Dabei fällt zunächst die ungünstige Ausgangslage einer durch die Pandemie erzwungenen Priorität akuter Krisenbewältigung ins Gewicht. Sie belastet sicherlich den Anfang, aber sie macht es auch leichter, die Preisgabe politischer Wahlversprechen – »Keine neuen Schulden« – zu rechtfertigen. Paradoxerweise ermöglicht die Pandemie mehr Beweglichkeit und eröffnet neue Handlungsspielräume. Auch wenn sich die Ampelkoalition in denselben schwerfälligen Prozeduren wiederfand – Sondierungsgespräche vor den eigentlichen Verhandlungen, die Beteiligung großer Expertenteams und Arbeitsgruppen, die Verschriftlichung der Ergebnisse in einem Koalitionsvertragspaket mit 177 Seiten –, so wirkte die Präsentation dennoch ambitioniert, weil nicht auf das bloße »Abarbeiten« von Spiegelstrichen orientiert. Obgleich nur wenige vage umrissene politische Projekte angekündigt sind, ist die Absicht, eine konsistente Zukunftsvorstellung zu vermitteln, durchaus erkennbar. Das dafür gewählte Leitmotiv der »Modernisierung« klingt zwar nach einem inhaltsleeren Allerweltsversprechen. Doch verdeutlicht der Kontext, in dem der Koalitionsvertrag den Begriff wiederholt verwendet, die unmissverständliche Priorität für ein politisches Fernziel: Klimaneutrales und nachhaltiges Wirtschaften. Auf diesen fernen Horizont hin lassen sich wesentliche Teilprojekte der ungleichen Partner orientieren, zumindest solange, bis deren immanente Widersprüche zutage treten. Vorerst aber wird man der selbsternannten »Modernisierungskoalition« eines nicht absprechen können: Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin hat sie sich auf eine große Erzählung, auf ein gemeinsames Projekt verständigt, dessen Zukunftsrelevanz auch für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung außer Frage steht.

Risiken und Konfliktpotential des neuen politischen Dreiparteienbündnisses sind indes nicht zu übersehen. Bereits während der Koalitionsverhandlungen wurde Enttäuschung an der Basis laut, sei es, dass die Begründung politischer Kompromisse nicht überzeugte, sei es, dass einzelne Erwartungen und Ansprüche nicht erfüllt wurden. Auch im Binnenverhältnis der Koalition scheint es schwer zu fallen, Ausgewogenheit zwischen der größeren Regierungspartei und den kleineren Partnern zu erzielen. Wiederholt offenbarten sich partielle Übereinstimmungen zwischen zwei Koalitionären, die das Potential haben, den dritten Partner auszugrenzen. Bislang gelang es dem Kommunikationsmanagement der drei Parteien, Unstimmigkeiten zu moderieren und Störgeräusche in den eigenen Reihen abzudämpfen. Die für diese Aufgabe prädestinierten Kommunikatoren Robert Habeck, Christian Lindner und Rolf Mützenich werden es dennoch schwer haben, Fliehkräfte und enttäuschte Erwartungen in ihren Parteien unter Kontrolle zu halten. Chancen und Risiken eines in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht dagewesenen heterogenen Parteienbündnisses liegen dicht beieinander. So wie sich höchst unterschiedliche gesellschaftliche Lebensentwürfe in dieser ungleichen Koalition gegenwärtig bündeln, so unvermittelt können diese konträren Ansprüche das Bündnis auch wieder auseinanderstreben lassen.

Chancen und Perspektiven ungleicher Koalitionen ‒ Regierungsbildung 2021 – Teil I

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Flaggen wehen vor dem Reichstagsgebäude, Außenansicht Westfront.
Ort: Reichstagsgebäude, Westansicht, Berlin / Deutschland
aufgenommen: 20. November 2020, 14:38 Uhr
Bildnummer: 5001911
Fotograf/in: Simone M. Neumann

26. Januar 2022 || ein Beitrag von Prof. Andreas Schulz, Professor für Neuere Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt a. Main sowie Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. in Berlin