Paul McCartney zum 80. Geburtstag-Mehr im Blog der Akademie

Die unerhörte Schwerelosigkeit des Songs

Als vor zehn Jahren in London die Olympischen Sommerspiele eröffnet wurden, bot das Vereinigte Königreich in einer gigantischen, über 30 Millionen Euro teuren Show alles auf, was in der Welt als „very british“ gilt: natürlich die Queen, dazu James Bond und Mister Bean, Sir Simon Rattle und David Beckham, den National Health Service und den Erzbischof von Canterbury, Big Ben und Winston Churchill – alle waren sie irgendwie in dieser „Liebeserklärung an Britannien“ vertreten.

Es war schon nach Mitternacht, das olympische Feuer brannte lichterloh, und die Athleten dachten bestimmt an die nötige Bettruhe vor den anstehenden Wettkämpfen. Was mochte jetzt noch kommen, um das Spektakel abzurunden und abzuschließen? Was könnte Finale dieser minutiös durchorchestrierten Glitzerparade sein? Welcher Mensch hätte das weltweite Standing, das Charisma und das Selbstbewusstsein, um nach einem solchen Programm die 62.000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Stadion sowie die über den ganzen Erdball verteilte Milliarde Menschen an ihren TV-Geräten zu fesseln, anzurühren und zu begeistern? Auch im Vereinigten Königreich, das an Popstars von Weltrang noch immer nicht arm ist, konnte es für diese Aufgabe keine bessere Wahl geben als einen Mann aus der Industrie- und Hafenstadt Liverpool, der im Monat zuvor seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte: Paul McCartney.

Ob McCartney beim Blick auf die Tausenden feiernden Menschen im Riesenrund des Stadions einen Augenblick darüber nachgedacht hat, wie unglaublich der Weg gewesen ist, der ihn an diesen Platz geführt hatte?

Am 18. Juni 1942 kommt James Paul McCartney als Sohn der Krankenschwester Mary McCartney in Liverpool zur Welt. Zum Zeitpunkt der Geburt ist Vater James „Jim“ McCartney als freiwilliger Feuerwehrmann im Einsatz – England befindet sich im Krieg. Die McCartneys sind irischer Abstammung und haben sich aus den untersten Rängen der Arbeiterklasse etwas emporgearbeitet. Paul und sein jüngerer Bruder Michael werden katholisch getauft, aber Religion spielt im Leben der Familie keine große Rolle. Anders die Musik: Vater James spielt Trompete und besitzt ein Klavier. Bei Familienfeiern wird gemeinsam musiziert. Paul soll Klavierunterricht bekommen, zieht es aber vor, nach dem Gehör zu spielen. Außerdem singt er in einem Kirchenchor. Sein Vater schenkt ihm eine Trompete, aber Paul hat im Radio neuartige Klänge gehört, die ihn faszinieren und ganz ohne Blechbläser auskommen: Mitte der 1950er Jahre kommt mit Bill Haley, Buddy Holly, Little Richard und Chuck Berry der Rock and Roll aus den USA nach Europa. Paul McCartney kauft seine erste Gitarre, deren Besaitung er als Linkshänder umdrehen muss. Mit 14 schreibt er seine ersten eigenen Songs, einer davon wird Jahre später als „When I’m Sixty-Four“ auf dem wohl bedeutendsten Album der Pop-Geschichte veröffentlicht: Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band.

Daran ist 1956 noch nicht zu denken. Ein schwerer Schicksalsschlag beendet jäh die unbeschwerte und behütete Kindheit des jungen Paul McCartney. Seine Mutter Mary stirbt nach einer Brustkrebsoperation. Paul, so erinnert sich später sein Bruder Michael, drückt seine Trauer in Musik aus. Er hört nicht mehr auf, Gitarre zu spielen. Auf Bildern aus dieser Zeit sieht man einen traurig und ernst blickenden Jungen mit einer Gitarre, in Gedanken versunken.

„Was soll nur aus diesem Jungen werden?“ wird sich der Witwer Jim McCartney wohl gedacht haben. Paul ist ein guter Schüler und schafft es auf die besten Liverpooler Schulen. Aber seine Leidenschaft gilt allein der Rock-Musik. Am 6. Juli 1957 kommt es dann zu einer Begegnung, die den Gang der Musikgeschichte prägen wird. Bei einem Kirchenfest erlebt McCartney eine Garagenband, die sich The Quarrymen („Die Steinbrucharbeiter“) nennt. Ihr Frontmann ist sichtlich angetrunken und wenig textsicher, seine spielerischen Fertigkeiten an der Gitarre sind sehr limitiert. Aber da sind eine Begeisterung und eine Energie, die den jungen McCartney fasziniert haben müssen.

Am Rande des kleinen Konzerts lernt er dann diesen Bandleader kennen, der sich als John Lennon vorstellt. McCartney bekommt eine Gitarre in die Hand gedrückt und wird vielleicht gespürt haben, dass dies seine Chance ist, in eine Band aufgenommen zu werden. Er spielt Rock’n’Roll-Standards und beeindruckt die Quarrymen mit seinen technischen Fähigkeiten und seiner glasklaren Stimme. Aber ihr Anführer Lennon zögert. Soll er diesen McCartney in die Band aufnehmen und sich damit einen musikalisch überlegenen Konkurrenten an seine Seite holen?

Nach drei Tagen entscheidet sich Lennon für McCartney und legt so nicht nur den Grundstein für das wohl produktivste Komponistenduo des 20. Jahrhunderts, sondern auch für eines der erfolgreichsten und bedeutendsten Ensembles der Musikgeschichte. Denn schon bald werden sich die Quarrymen in „The Beatles“ umbenennen, zu einer Größe der regionalen Musikszene aufsteigen und dann innerhalb weniger Jahre zu einem Weltereignis werden.

Keine zehn Jahre nach der Begegnung beim Kirchenfest von Woolton werden Lennon, McCartney und ihre Bandkollegen George Harrison und Ringo Starr auf dem Höhepunkt der „Beatlemania“ stehen, einer globalen Begeisterungswelle ungekannten Ausmaßes. Sie spielen in der Ed-Sullivan-Show und werden von Queen Elisabeth ausgezeichnet. Sie drehen Filme und gründen ein eigenes Unternehmen. Im Zentrum ihres Schaffens aber steht die Musik.

Schon die frühen Kompositionen von Lennon und McCartney zeichnet ein eigentümlicher Zauber aus. Da sind die unbändige Energie und Frische, mit denen die Beatles die Herzen ihrer zumeist jugendlichen Fans erobern. Aber da hört man auch Melodien und Harmonien, die viel feiner gesponnen sind als bei den bisherigen Rock’n’Roll-Songs. Ein Musikkritiker der Times erkennt in ihrem Song „Not a second time“ die gleiche äolische Kadenz wie in Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. In ihrer Hamburger Zeit Anfang der 1960er haben die Beatles bei ihren stundenlangen Konzerten in Reeperbahn-Etablissements zudem eine Art des Chorgesangs entwickelt, bei dem ihre Stimmen zu einem eigentümlichen Amalgam verschmelzen.

Lennon und McCartney komponieren am laufenden Band, stacheln sich zu immer neuen Leistungen an. Wenn einer der beiden einen Song mit einer bestimmten Tonalität mitbringt, will der andere auch so einen schreiben. Dabei ergänzen sich ihre Talente auf wundersame Weise: Lennon ist der härtere der beiden, seine Stimme ist metallisch-nasal, seine Kompositionen sind oft simpel, aber energiegeladen und roh. McCartney ist sanfter, seine Stimme weicher und vielseitiger, seine Melodien berückender.

Gemeinsam erschließen sich die vier Jungs aus Liverpool immer weitere Klangwelten. Sie lassen sich von klassischer Musik ebenso inspirieren wie vom Folkbarden Bob Dylan, sie knüpfen Kontakte zur künstlerischen Avantgarde, interessieren sich für östliche Spiritualität und experimentieren mit bewusstseinserweiternden Drogen.

Längst haben sie die Enge der simplen Rock’n’Roll-Songs hinter sich gelassen, als Paul McCartney im Februar 1967 die bis dahin wohl außergewöhnlichste Aufnahmesession der Pop-Geschichte leitet. Man hat ein Symphonieorchester ins Studio an der Abbey Road bestellt. Jedes Mitglied des Ensembles soll in 24 Takten willkürlich vom tiefsten bis zum höchsten Ton seines Instrumentes gelangen und dabei nicht auf die Nebenleute achten. Auf Bildern sieht man den damals 25 Jahre alten McCartney, der bis heute keine Noten lesen kann, den Taktstock schwingen.

Das Orchestergewitter beschließt A day in the life – eine avantgardistische Songkonstruktion, bei der sich Lennons und McCartneys Kompositionen wie in einer Collage aneinanderreihen. Es ist ein Höhepunkt gemeinsamen Schaffens und eine Sternstunde der populären Musik, die sich in diesen Jahren zu einer ernstzunehmenden Kunstform mausert. Der Theaterkritiker Kenneth Tynan wird das Erscheinen von Sgt. Pepper’s lonely hearts club band sogar als „entscheidenden Moment der westlichen Zivilisation“ bezeichnen.

Doch schon kurze Zeit nach diesem Triumph beginnt der Zerfallsprozess der Beatles. Es ist wie eine Supernova. Zwar entstehen weitere Meisterwerke, die längst zum Kanon der Weltmusik zählen: Let it be, Hey Jude, Come together, Here comes the sun, Something und viele mehr. Aber die Spannungen zwischen den vier Beatles nehmen zu. Kurzzeitig verlassen nacheinander Ringo Starr und George Harrison die Band. Schließlich steigt John Lennon im Sommer 1969 endgültig aus. Niemand erfährt davon, die drei verbliebenen Beatles machen weiter, bis Paul McCartney im April 1970 das Ende der Band verkündet. Nach dem Tod ihres Managers Brian Epstein nur wenige Wochen nach dem Erscheinen von Sgt. Pepper hatte Paul McCartney zunehmend das Ruder übernommen, die Gruppe geleitet und zum Weitermachen angetrieben. Es ist eine bittere Ironie, dass ihm seine Bandkollegen oberlehrerhafte Dominanz vorwerfen, während die Fans McCartney die Auflösung der Beatles anlasten. Erst viel später wird der gutmütige Ringo Starr anerkennend feststellen, dass ohne Paul McCartneys unermüdliche Anstrengungen viele große Songs nicht entstanden wären.

Nach dem Ende der Beatles droht McCartney den Halt zu verlieren und in Depressionen zu versinken. Es ist seine Frau Linda, die ihm neue Perspektiven erschließt. Mit ihr wird er wenige Jahre später eine neue Band gründen, die beachtliche Erfolge vorweisen kann. Einige McCartney-Kompositionen der Nach-Beatles-Zeit können sich qualitativ mit den Werken des Duos Lennon/McCartney messen lassen. Doch auch Paul McCartney wird es nicht gelingen, den Zauber der Beatles wiedererstehen zu lassen. Man muss ihm zugutehalten, dass er sich mit diesem Schicksal arrangiert und nunmehr fünf Jahrzehnte lang offenbar ungerührt und heiter weitergemacht hat. So kann Paul McCartney heute auf ein unglaubliches Lebenswerk mit 39 Studioalben (davon 13 mit den Beatles), zahlreichen Live-Alben sowie klassischen Kompositionen und Oratorien blicken. Er hat mehr als 100 Millionen Tonträger verkauft und ist in ausverkauften Arenen auf allen Erdteilen aufgetreten.

Viele haben McCartneys unermüdliches Schaffen skeptisch beäugt und ihm Streberhaftigkeit vorgeworfen. Er habe es nie verwinden können, die Nummer zwei hinter seinem ehemaligen Partner und Konkurrenten John Lennon zu sein, nie an dessen Charisma und Genie heranzureichen, immer der rehäugige Mädchenschwarm zu bleiben, dessen Kompositionen stets etwas zu süßlich, zu sanft und oberflächlich gerieten. Man muss kein McCartney-Fan sein, um zu erkennen, dass diese Schmähungen ungerecht sind. Natürlich: McCartneys sogar mit gerichtlichen Mitteln angestrengter Versuch, die Komponisten-Bezeichnung bei einigen Beatles-Songs von Lennon/McCartney in McCartney/Lennon umzudrehen, ist kleinlich und peinlich. Und ja, dass dieser Mann ein großes Ego hat, steht außer Frage. Aber in diesem Punkt unterscheidet er sich von seinem alten Kumpel Lennon nun wirklich nicht.

Dass der Vorwurf der Streberhaftigkeit an der Sache vorbeigeht, macht niemand geringeres unmissverständlich klar als der Nobelpreisträger Bob Dylan, mit dem sich McCartney heute den Thron des größten lebenden Rock-Musikers teilt. Schon vor Jahren gab Dylan zu, dass er McCartney bewundere: „Er ist so ziemlich der Einzige, vor dem ich Ehrfurcht habe. Er kann alles machen. Und er hat nie nachgelassen…“. Und dann fügt Dylan hinzu: „He’s just so damn effortless“.

Effortless – spielerisch, ohne Anstrengung, mühelos – das zeichnet McCartneys künstlerische Präsenz aus. Was auch immer dahinterstecken mag, es verblüfft die Leichtigkeit, mit der McCartney alles zu gelingen scheint, die schlafwandlerische Sicherheit, mit der er sich durch die unterschiedlichen Musikstile bewegt, sein untrügliches Gespür für Melodien und Harmonien, seine geradezu hypnotische Beziehung zum Publikum. Man könnte auch sagen, dass ihm die seltene Gabe der Schwerelosigkeit geschenkt ist.

Diese Schwerelosigkeit hat Paul McCartney in seine besten Kompositionen hineingeschrieben, so dass sein Publikum für einen kurzen Augenblick an ihr teilhaben kann: In McCartneys Songs gibt es immer wieder Momente, in denen alles zu schweben scheint. Nirgendwo ist dies schöner zu spüren als in Hey Jude, McCartneys Meisterwerk aus dem Jahr 1968. Wie kein zweiter Song eignet sich dieses eigentümlich zwischen Trauer und Heiterkeit vibrierende Stück für das große Publikum, die großen Bühnen und Momente.

Nicht zuletzt bei den Olympischen Spielen zelebriert McCartney – nachdem er den Anfang mit seiner Combo etwas verstolpert hat – diesen einen schwerelosen Moment, an dem der Refrain in die schier endlose Coda übergeht. Dann dirigiert er die ausgelassene Menge, lässt erst nur die Männer, dann nur die Frauen singen, bevor die Band wieder einsetzt und alle gemeinsam und gleichermaßen beschwingt wie bewegt in diesem denkbar einfachen und doch so erhebenden Gesang zusammenfinden. Wenn man einem Außerirdischen die Kraft der Pop-Musik erklären wollte, sollte man ihm einfach die Videoaufnahmen von Hey Jude zeigen.

Heute, am 18. Juni 2022, feiert Sir Paul McCartney seinen 80. Geburtstag. Die Welt gratuliert einem ihrer herausragenden Tondichter und Unterhaltungskünstler, der ihr wunderbare Momente der Schwerelosigkeit geschenkt hat.

Bildnachweis

Paul McCartney in Austin, Texas, 2018, Bild: Raph_PH auf Flickr (CC BY 2.0)

Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele London 2012, Bild: Matt Lancashire via Wikimedia commons (CC BY 2.0)

Das Haus der Familie McCartney, 20 Forthlin Road in Liverpool, Bild: Lipinski via Wikimedia commons (CC BY-SA 3.0)

Die Beatles am Beginn der Beatlemania, 1964, Bild: Nick Newbery  via Wikimedia commons, gemeinfrei

John Lennon und Paul McCartney, Bild: David Bailey via James Vaughan auf Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Das berühmte Cover von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, 1967, Bild: Joe Haupt auf Flickr (CC BY-SA 2.0)

Das ebenfalls berühmte Cover von Abbey Road, 1969, Bild: vinylmeister auf Flickr (CC BY-NC 2.0)

Lennon or McCartney, Bild: Mschichter via Wikimedia commons (CC BY-SA 4.0)

Sir Paul dirigiert sein Publikum beim Desert Trip Festival 2016, Bild: Raph_PH auf Flickr (CC BY 2.0)

18. Juni 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert