Kunst vor Schluss

Die Zeit des 9-Euro-Tickets neigt sich ihrem Ende entgegen. In der kommenden Woche ist erst einmal Schluss mit dem Supersparpreis im öffentlichen Nahverkehr. Wer weiß, wie wir einmal auf die drei Monate zurückschauen werden, in denen das Bahnfahren so günstig war wie seit den Tagen des legendären Schönes-Wochenende-Ticket für 15 Deutsche Mark nicht mehr? Damals sind wir mit einigen Kumpels nach Bonn gefahren, um in Onkel Helmuts Geschichtspalast Joschka Fischers Turnschuhe und die wandernde Waschmaschine zu bestaunen. Heute würde ich für das letzte Augustwochenende eher einen Besuch im Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg empfehlen.

Seit der jüngsten Erweiterung bietet das Museum auf über 6000 m² Ausstellungsfläche einen großartigen Überblick über die deutsche Kunst der Nachkriegszeit. Alles, was in diesem Bereich Rang und Namen hat, ist hier großzügig vertreten: Georg Baselitz, K.O. Götz, Jörg Immendorff, Anselm Kiefer, Markus Lüpertz, A. R. Penck, Sigmar Polke, Gerhard Richter und wie sie alle heißen. Unbestritten gehört die Kollektion, die sich im Wesentlichen aus zwei privaten Sammlungen speist, zu den bedeutendsten Sammlungen deutscher Nachkriegskunst.

Dass nun mehr als 3000 Werke gezeigt werden können, ist nicht zuletzt dem im September 2021 eröffneten Erweiterungsbau zu verdanken. Wie schon der Hauptbau wurde dieser nach Entwürfen des Basler Architekten-Büros Herzog & de Meuron gebaut. Mit der Tate Modern in London und der Hamburger Elbphilharmonie haben sich die Schweizer einen Namen für spektakuläre Umnutzungen alter Wirtschaftsgebäude gemacht.

Am Duisburger Innenhafen wurde ein ehemaliger Getreidespeicher – die 1908 errichtete Küppersmühle – umgenutzt. Dabei blieben die an den recht schmucklosen Backsteinbau angrenzenden Silos aber unberücksichtigt. Erst nachdem ein Erweiterungsversuch nach dem Muster der Elbphilharmonie krachend gescheitert war, entschied man sich im zweiten Anlauf für einen Anbau, der die großen Metalltürme nun in eine exponierte Zentrallage brachte. Von außen betrachtet, ergibt sich ein harmonisches Ensemble, das die jüngsten baulichen Veränderungen fast verleugnet. So wenig aufplusternd und effekthascherisch fügt sich das große Gebäude in seine Umgebung ein. Der Grundgedanke des Baus, so verrieten die Architekten, sei „Als wäre er schon immer dagewesen“. Die Umsetzung dieser Idee ist ihnen gelungen.

Auch im Inneren setzt sich die zurückhaltende Gangart fort. Erst nachdem man schon einige Räume durchschritten hat, steht man plötzlich im alten Getreidespeicher, dessen dunkel-metallene Anmutung an ein altes Raumschiff erinnert, das vor langer Zeit auf einem Planeten am Rande der Galaxis zurückgelassen wurde. Retrofuturismus im Ruhrgebiet.

Die großzügigen Ausstellungsräume nehmen sich in ihrem strahlenden Weiß dagegen zurück und dienen der ausgestellten Kunst. Diese kann die Aufmerksamkeit der Besucher ganz für sich beanspruchen. Man staunt über die schiere Größe des Hauses und die Ansammlung von Kunstwerken, die es beherbergt. Dabei dominieren die großflächigen und starkfarbigen Stücke, denen die teilweise riesigen Räume eine passende Bühne bieten. Die Werke werden meist in Gruppen präsentiert, manchmal „teilen“ sich zwei Künstler (oder auch Künstlerinnen, wobei die deutlich seltener sind) einen Raum. Die üblichen biographischen Angaben werden jeweils mit einer Eigenaussage zum Kunst- und Schaffensverständnis versehen.

Man durchschreitet Raum um Raum, und dabei verfestigt sich ein erstaunlicher Eindruck: Die Kunst gefällt, sie verstört aber nicht. Liegt es daran, dass man in jeder Sparkassenfiliale, in jedem Tagungshaus Vergleichbares sieht? Auch im Kardinal-Schulte-Haus in Bensberg hängt ja ein „Penck“. Haben wir uns an diese Kunst zu sehr gewöhnt, als dass sie uns noch aufwühlen könnte?

Vielleicht wird es notwendig, den Besuchern den zeitlichen Kontext näher zu bringen, in dem die hier versammelten Werke entstanden. Vielleicht muss man die muffige Bohnerwachs-Atmosphäre der Adenauerzeit heraufbeschwören. Vielleicht muss man die zerstörten Städte zeigen oder noch weiter zurückgehen und an den Umgang der Nationalsozialisten mit der Kunst erinnern, um begreifbar zu machen, was die Kunst ausmacht, die hier gezeigt wird. Was war das revolutionär Neue am Informel von ZEN 49 bis Gruppe 53? Um diese Frage zu beantworten, braucht man vielleicht mittlerweile neben einem Bild von K.O. Götz die wandernde Waschmaschine und ein Bild von Adenauer beim Bocciaspiel in Cadenabbia.

In der Küppersmühle aber schwebt die Kunst in einem großen retrofuturistischen Raumschiff durch ein zeitloses Universum. Man kann kaum erraten, aus welchem Jahr ein Werk stammt, so völlig losgelöst tritt es einem hier entgegen. Das ist schön, aber auch schade.

Nicht unerwähnt dürfen natürlich die hoch gelobten Treppenhäuser bleiben. In rot eingefärbtem Sichtbeton ausgeführt, zeichnet sie eine wunderbare Eleganz ohne Kühle aus. Vielleicht sind sie das Element der Küppersmühle, das dem Bau Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit verleiht. Es verwundert jedenfalls nicht, dass sie bei einer schnellen Google-Recherche das dominierende Interieur-Motiv sind. Hier, wo man den Architekten nicht vorwerfen kann, dass sie in einem eitlen Wettstreit mit der Kunst ihre dienende Rolle vernachlässigten, geben Herzog und de Meuron noch einmal eine kleine Kostprobe ihres Könnens.

Stunden kann man in diesem Kunst-UFO zubringen, zwischen den Gebäudeteilen hin- und hergehen, in den großen Siloturm starren und die vielen Kunstwerke betrachten. Wenn man schließlich hinaustritt, ist man wieder in Duisburg. Horst Schimanski ermittelt hier schon lange nicht mehr. Was er wohl zu diesem Museum gesagt hätte? Sicher wäre es nicht zitierfähig gewesen. Also macht man sich am besten selbst ein Bild. Noch gibt es ja das 9-Euro-Ticket.

Bildnachweise

Alle Bilder: Matthias Lehnert, Juli 2022

25. August 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert