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Kai SEMOR Niederhausen I Sein Werdegang & seine Kunst

Einen ausführlichen Beitrag zum Werdegang und zu seiner Kunst schrieb Professor Frank Günter Zehnder für den neuen Katalog von Kai „Semor“ Niederhausen, den wir in zwei Teilen dankenswerterweise in unserem Blog veröffentlichen dürfen.

Aus dem Nichts zur Kunst – Teil II

Das Jahr 2016 ist für die Kunst Semors eine Phase der Veränderung, ja der künstlerischen Weiterentwicklung seiner Art der „Malerei mit anderen Mitteln“. Zählte seine bisherige eigene Bildsprache in Writing und Lettering noch klar zur Street Art, so begann er nun, Bilder zu malen, graphische Techniken anzuwenden und immer deutlicher auch im kleineren Format zu experimentieren. Er schlug gewissermaßen einen vorausweisenden Weg von der Street Art zur Art Gallery, vom Graffiti zur Graphik ein, – mit all den Risiken, die zu einem solchen Wechsel gehören. Es war für Semor eigentlich eine Wiederentdeckung, hatte er doch bisweilen schon auf Leinwand gearbeitet, mit großen Buchstaben einen Rahmen gefüllt und ist damit erste Schritte zur klassischen Bildkunst gegangen. Die um die Mitte 2016 entstandenen Collagen, in denen er mit Flächen und Neonfarben, Linien und Buchstaben experimentierte, sind ein deutlicher Schritt in eine neue Richtung. Abseits der Kunstszene und auch der Street Art suchte er damals nach einer ganz persönlichen bildlichen Ausdrucksform, die sehr bald seine autonome und authentische Bildsprache werden sollte.

Erklärlich und merkwürdig zugleich ist, dass Semor in der Ruhe des Ateliers leidenschaftlich an seiner Kunstsprache arbeitete und weiterhin durchaus umtriebig bei seiner öffentlichen Graffiti-Ansprache blieb. Eigentlich kein Wunder, dass er im April/Mai 2017 zur Teilnahme an dem sehr bekanntgewordenen Projekt „The Haus“ in Berlin eingeladen wurde. Er war einer der 165 Kunstschaffenden für die 108 Räume, aber vor allem einer, der international auffiel. Für seine künstlerische Entwicklung müssen diese Arbeiten auf den Flächen eines Innenraums und der Umgang mit gewöhnlichen Maßen als wichtiger Moment einer Sinnesschärfung verstanden werden. Der auf anderen Feldern bereits erfolgreiche junge Künstler erkannte den Weg hin zu neuen Formaten. Freilich verabschiedete er sich nicht von der Graffitikunst, – übrigens bis heute nicht -, weil ihm die Lebendigkeit und der gesellschaftliche Diskurs mit allen Generationen in dieser Bildgattung viel bedeuten. So ist er darin immer noch unterwegs, verlagert aber schrittweise seinen Schwerpunkt.

Ein besonderes Kennzeichen des aktuellen Schaffens ist, dass Semor seine Bilder baut, dass Formen und Farben wenig ineinander fließen. Die eher architektonisch anmutenden Werke entstehen ohne Plan und Skizze, sie entwickeln sich beim spontanen Arbeiten. Da werden unterschiedlich große oder divers gelagerte Flächen in Partien abgeklebt, gesprüht, gemalt, deckend oder per Dripping farbig gefasst. So ergeben sich völlig neue Möglichkeiten bei Ausdehnungen oder Begrenzungen, seien sie schwebend oder liegend, zart oder hart, kantig oder sanft, ja feminin oder maskulin. Durch aufeinanderfolgende Verlagerungen und Verschiebungen einer Abklebung entwickeln sich Strukturen, bilden sich Bildsysteme, die selbst bei Änderung von Formen, Farbe und Anordnung noch eine ähnliche charakteristische Balance und Ausgewogenheit in sich tragen. Dieser Stil wird von einer Vielheit in der Einheit bestimmt, ist wandelbar, auffallend ruhig, deklinierbar und macht jedes Bild einzig und anders. Es fällt auf, dass es Bildprozesse gibt, in denen -zumeist – vertikal angelegte Flächen parallel zum Bildrand verlaufen, oder solche, in denen der geometrische Schwerpunkt aus dem Bildzentrum verschoben ist. Semors Bilder mit ihren Flächen und Linien, mit Parallelen und Kreuzungen, mit dem ausgeglichenen Farbkanon von Neonrot bis Schwarz sowie dem wohlproportionierten Licht strahlen Gemessenheit aus und lassen Räumlichkeit zu. Stabile und zugleich variantenreiche Kompositionen entstehen hier durch einfache Überlagerungen von Flächen, durch geometrische Bezüge und sparsam eingesetzte konstruktivistische Gerüste.

Mit der Verfeinerung von Farbauftrag und Flächengestaltung, durch einen sensiblen Dialog der Farbtöne und Nuancen wurden die Bilder der „Fluor-Series“, wie sie seit 2017 ganz praktisch und materialbezogen bezeichnet werden, zu Semors unerschöpflichem Experimentierfeld. Ihr Vokabular aus unterschiedlich dimensionierten und geschnittenen Farbfeldern kennt keine Grenzen, ebenso die Abstufungen nebeneinandergesetzten Kolorits. Seine Bilder sind nicht bunt, sondern farbig. In diesen Zusammenhängen spielen Farben von Weiß bis zu Grau eine wichtige Rolle, vermitteln sie doch einen Gleichklang von Ruhe und Bewegung. Ein kräftiges Neonrot, die Lieblingsfarbe des Künstlers, oder ein schweigsames Schwarz sorgen für Akzente im Ablauf der sanften Farben. Natürlich schlägt auch in dieser ganz besonderen Bildkultur die große Erfahrung des Sprayers durch. Wird die Präzision des Farbauftrags bewusst gestört, wird sie wild, fleckig oder erkennbar gestrichen, so ist hier Segmentierung und Metrik im Spiel. Unübersehbar sind auch die meditativen Impulse, die die Farb- und Formkräfte dieser Kompositionen ausstrahlen.

Wenn man diese Kompositionsweise Semors über weite Bildstrecken verfolgt, wird klar erkennbar, dass sie sich aus Spiel und Maß, aus einem inneren Arsenal des Konstruktiven wie aus reiner Mal-Lust speist. Es steckt eine bewundernswerte Unbefangenheit in diesen doch so klaren Bildprozessen. Seine vielfältige Bildkunst mit der eindeutig identifizierbaren Handschrift folgt keinem System, sondern sie lauert sozusagen stets auf den nächsten Einfall, die nächste Sprühdose und das Wechselspiel von Reflexion und Leidenschaft. Dieses mittlerweile kräftig gewachsene Oeuvre erneuert sich immer wieder von innen und nicht durch äußere Einflüsse. So sind beispielsweise zarte Linienspiele, Kontraste oder geometrische Versatzstücke Ergebnisse eines ständigen Suchens und Probierens. Und die in jüngeren Werken ausgeprägte Räumlichkeit verdankt sich dem Verschieben von Flächen, dem Einsatz von Winkeln oder veränderten Farbverläufen. Dahinter stehen Neugier und Risikobereitschaft. Semor stellt seine Kunst und sich als Künstler immer wieder auf den Prüfstand, – mit dem Ergebnis neuer Einfälle und Techniken.

In diesem Kontext entstehen auch die mit vielerlei Objekten gefüllten kleinen Schaukästen, die einer sinnvollen Mutation von der Wissenschaft zur Kunst unterzogen wurden. Ehemals waren Naturalien fachgerecht darin aufbewahrt und präsentiert worden. Nun sind sie mit erkennbaren oder sonderbaren Gegenständen inszeniert, die an ganz unterschiedliche ehemalige Funktionen denken lassen. Da sind kleine Objekte, die Assoziationen oder Erinnerungen wecken, andere bleiben rätselhaft und weitere können ganze Geschichten erzählen.  Manches kann man sofort identifizieren, anderes nimmt man als Denksport-Aufgabe mit. Jeder Kasten ist eine neue Überraschung. Schaut man vom Inhaltlichen auf das Formale, wird neben dem Narrativ und dem zweifellos Witzigen die künstlerische Absicht klar: Hier wird komponiert, arrangiert, konstruiert, es wird dreidimensional, haptisch und fantasievoll etwas angestoßen, was jeder Betrachter sich selbst erzählen und auflösen kann.

Auf die weiteren Schritte von Semors Werkentwicklung darf man sehr gespannt sein.

Quelle:
aus: Neonrot, Kai Semor 2017-2021, Hrsg. Von Kai „Semor“ Niederhausen, Altusried-Krugzell 2021

In der Thomas-Morus-Akademie sind die Arbeiten bis 30. April 2022, täglich von 9.00 bis 18.00 Uhr zu sehen. Näheres zur Ausstellungseröffnung finden Sie hier:

Die Bilder der Ausstellung können Sie schon hier ansehen.

Titelbild von Kai „SEMOR“ Niederhausen

12. Februar 2022 || ein Beitrag von Akademiereferent Andreas Würbel