Multschermuseum in Sterzing – ein Kleinod gleich hinter dem Brenner-Mehr im Blog der Akademie

Ein Kleinod gleich hinter dem Brenner

Jeder Landstrich in Italien besticht durch einen ganz eigenen Charme, ein individuelles Flair. Um die Vielfalt des Landes möglichst umfassend zu erleben, hat sich Akademiereferentin Judith Graefe auf eine lange geplante Italien-Reise begeben. Mit ihrer Familie ist sie seit Beginn der Sommerferien in Italien und schickt uns von unterwegs ganz besondere Blog-Beiträge.

Heute reist sie mit uns zum Multschermuseum in Sterzing – ein Kleinod gleich hinter dem Brenner.

In unserem Blog können Sie ihre Reise miterleben. Heute geht es in Sterzing los, dann nach Pisa, weiter nach Rom und zum Schluss über Pompeji zurück ins Rheinland.

Der Brenner! Der Ort, an dem Vorfreude in Begeisterung umschlägt, denn gleich dahinter liegt ein besonderes Sehnsuchtsland: Italien. Der Blick auf die Karte bestätigt es: Man ist in Italien. Doch bevor man wirklich italienische Töne in emotionalem Crescendo vernimmt, kommt erst ein anderes Sehnsuchtsland, und das ist Südtirol. Alpenidylle, Heumilch, Graukaas, Kuhglocken, und alle paar Hügel eine Burg. Und auf das erste kulturelle Goldstück braucht man nicht lange zu warten. Sterzing, oder auf der Karte Vipiteno, offenbart sich als solches auf den ersten Blick. Ein historisches Zentrum mit malerischen Arkadengängen, mitten hindurch der Eisack und am Rand des Zentrums der historische Komplex des sogenannten Deutschhauses. Ursprünglich als Hospiz gebaut, wurde der Bau am 27. November 1254 dem Deutschen Orden geschenkt und heißt daher heute Deutschhaus.

Darin befindet sich das erste Highlight der Italienreise: Das Multschermuseum Sterzing.

Hans Multscher wurde um das Jahr 1400 in Reichenhofen, Leutkirch in Bayern geboren. Nach seiner Ausbildung machte er sich auf Gesellenfahrt und kam so in die Niederlande, Nordfrankreich, Burgund und Paris. So passierte er ein Füllhorn modernster Bildhauerkunst, und sicher war besonders Paris the place to be, war es doch die Geburtsstätte der Gotik.

In den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts ließ er sich in Ulm nieder und erhielt dort das Bürgerrecht. Dort war man an einer Ausweitung der Produktion und an der Steigerung des Fernhandels interessiert. So stellte der Ulmer Rat Hans Multscher vom Zunftzwang frei, und da er die Freirechte der Leutkircher Heide besaß, musste er in Ulm zeitlebens keine städtischen Steuern bezahlen. Man bestellte ihn zum amtlich vereidigten Sachverständigen, zum “geschworenen Werckmann”. Bald erhielt er vom Rat und Patriziat der Stadt anspruchsvolle Aufträge und so waren in Multschers Werkstatt bald mehrere Gesellen aus artverwandten Berufen beschäftigt.

Multschers Ruf verbreitete sich schnell in weiten Teilen Deutschlands. Über den Brenner brachte er ihn 1456, als er den Auftrag für das Altarretabel in dem kleinen Südtiroler Städtchen Sterzing erhielt. Als wichtiger Knotenpunkt für den Nord-Südhandel konnte man sich dort renommierte Künstler leisten. Im Jahr 1459 kam er an seinen Platz und blieb dort immerhin 300 Jahre, bis die Barockisierung kam, der in den Jahren 1779/80 auch dieser Altar weichen musste. Aber das 19. Jahrhundert brachte auch hier die Begeisterung für die Gotik zurück. Allerdings in stark romantisierter Version: Tugendhafte Burgfräulein und galante Ritter auf edlen Rossen, davon träumte man, keine Spur mehr vom „finsteren Mittelalter“. Kunsthistorischer Bonus dieser Stimmung war nicht nur die Neogotik, der wir auch die Vervollständigung des Kölner Domes zu verdanken haben, sondern auch die wiedergefundene Wertschätzung der im besten Falle nur verstaubten Kunstwerke der Gotik. Leider war der Sterzinger Altar sehr unter die Barockräder geraten und konnte nicht ganz erhalten werden, so ist zum Beispiel das sicher prachtvolle Gesprenge nicht mehr auffindbar gewesen. Doch die Tafeln, einige Figuren und die tuchtragenden Engel der Predella wurden in der Alten Pinakothek in München restauriert und kamen zurück nach Sterzing. Das allerdings nicht für lange: Im Jahre 1940 wurden die Tafeln an den Staat verkauft, dann von Mussolini Reichsmarschall Göring geschenkt, schließlich, nach Kriegsende und Rückgabe an den italienischen Staat in die Uffizien in Florenz gebracht. Nach langen Verhandlungen kamen sie aber zurück in ihre Heimat und in ihrem Museum zur Ruhe.

Da es sich um einen Marienaltar handelt, stellen die vier Schreinflügel auf der geöffneten Festtagsseite Szenen aus dem Marienleben dar: Verkündigung, Geburt Christi, Anbetung der Könige und Marientod. Alle Szenen kennzeichnen ihre Modernität: Der Goldgrund der himmlischen Welt ist in Teilen der Darstellung von irdischer Landschaft gewichen, nur der Himmel leuchtet dem Betrachter noch golden entgegen, und das mit technisch ausgefeilter ornamentaler Punzierung der Flächen. Generell sind alle Oberflächen mit besonderer Sorgfalt ausgearbeitet, herausragend die Stofflichkeit der Kleider mit ihrem komplexen hochgotischen Faltenwurf. Eine besondere Menschlichkeit strahlt die Tafel des Marientodes aus; alle Jünger kämpfen mit ihrer Trauer, jeder vom Künstler ganz individuell getroffen.

Die Außenseiten für den Werktag zeigen dem Gläubigen die Passion Christi. Die Individualität der Personen wird hier noch auf die Spitze getrieben: In fratzenhafter Verzerrung werden alle Quälenden und Spottenden festgehalten, keine Typisierung mehr, keine Gleichartigkeit in der Darstellung von Gut und Böse, hier wird jeder einzelne genau unter die künstlerische Lupe genommen. Über allem liegt aber eine besondere stilistische Ruhe. Trotz aller inhaltlichen Bewegung und Emotionalität übt sich Multscher in einer Beruhigung der Form, die für die nachfolgenden Künstler richtungsweisend werden sollte.

Sollte Ihre Italiensehnsucht Sie also einmal über den Brenner führen, halten Sie an, besuchen Sie Hans Multscher in seinem Museum, ein Besuch lohnt sich.

Bildnachweis:

Sterzing-Vipiteno: Fantasy, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

5. Juli 2022 || ein Beitrag von Judith Graefe, Akademiereferentin Erkundungen