In den Blick nehmen

Von Drinnen nach Draußen oder Von Draußen nach Drinnen?

In unserem Wohnzimmer hängt ein Bild des in Berlin lebenden Künstlers Max Diel.
Ich schaue jeden Tag auf diese Interieursszene und möchte keinen Tag missen, an dem ich das Gemälde nicht betrachten kann.
Wenigstens für eine kurze Zeit, manchmal ist es nur für einen Augenblick und dann passiert es ganz unerwartet und unangekündigt: ich sehe immer etwas Neues, ich lese es wieder anders und stelle andere Fragen.

Dabei handelt es sich um keine spektakuläre Szene: Hier scheint nicht viel zu passieren, oder doch?
Da steht einer, der aus dem Fenster schaut. Der linke Fensterflügel ist geöffnet, der Oberkörper lehnt sich etwas nach Draußen. Die rechte Hand ist auf die schmale Fensterbank abgestützt. Unter dem Fenster befindet sich ein brauner Heizkörper. Dieser ist im Weg, ist ein Störfaktor und ich stelle mir vor, wie sich das anfühlt, wenn die Knie gegen die metallenen Rippen stoßen. Aber es ist ja nur Malerei, kann man ja gar nicht fühlen, oder doch?

Und was sieht er? Hat er draußen etwas oder jemanden entdeckt? Wartet er auf jemanden? Ruft er jemanden etwas zu? Sucht er jemanden da draußen? Wie lebt er? Ist das sein Zuhause? Oder ist er auf der Durchreise?

Aber der Blick nach draußen ist verwehrt. Die Fensterscheibe weist helle Schlieren auf.
Das, was eigentlich den Blick nach draußen ermöglicht, ist für den Betrachter verunklärt. Eindeutig ist hier nichts, es zeigt vielmehr, die Möglichkeiten von Malerei, auch in Bezug auf die Frage von Gegenständlichkeit und Abstraktion. Das ist ein fließender Übergang: es ist Farbe auf einem Bildträger…Mehr nicht und zeigt doch die ganze Welt.

In diesen besonderen Zeiten führt auch das Thema des Fensters zu einer neuen Perspektive: Wir blicken nach draußen und sehnen uns so sehr nach tröstlicher Banalität. Nach Draußen schauen bedeutet auch eine Betrachtung ins Innere.

In der neuen Reihe haben wir ausgewählte Personen gebeten, ihr persönliches Lieblingsbild (Gemälde, Foto, Zeichnung, Druck) „in den Blick zu nehmen“ und dazu etwas zu schreiben. An jedem Fastensonntag haben wir ein Bild und einen Text veröffentlicht. Erfreulicherweise haben uns zahlreiche Beiträge erreicht. Am heutigen Samstag nach Ostern erscheint der letzte Beitrag in der Reihe „In den Blick nehmen“.

Wie kam es zu dieser Idee? Ein Kunstwerk zu betrachten, sich damit auseinander zu setzen, hineingezogen zu werden, das kann glücklich machen, davon sind wir, das Redaktionsteam des Blogs „Akademie in den Häusern“, überzeugt. Aber auch die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu erweitern, bringt uns dem Glück und der Zufriedenheit ein entscheidendes Stückchen näher. Die unterschiedlichen Bilder, die in dieser kleinen Reihe gezeigt werden, laden uns ein, genauer hinzusehen und wahrzunehmen, was ist. Auf diesen Perspektivenwechsel in der Fastenzeit und darüber hinaus freuen wir uns! Lassen Sie sich, genau wie wir, mit allen Sinnen ansprechen.

Max Diel, waiting, hanging, 2011

10. April 2021 || ein Beitrag von Dr. Nicole Birnfeld, Kunsthistorikerin