In den Blick nehmen

Das Gesicht ist das zentrale Thema in der Kunst von Alexej von Jawlensky. „Das Gesicht ist für mich“, so schreibt der Künstler, „nicht ein Gesicht, sondern der ganze Kosmos.“ Kein anderes Thema hat er so kontinuierlich verfolgt von den frühen Porträts um 1900 bis zu der letzten Serie der „Meditationen“, die zwischen 1934 und 1938 entstehen. Innerhalb dieser Auseinandersetzung ist das Sehen bei Jawlensky nicht nur als grundlegende Beziehung zwischen dem Maler, dem Porträtierten und dem Betrachter von Bedeutung, sondern erhält eine besondere Bildfunktion.

In dem Gemälde Mädchen mit niedergeschlagenen Augen von 1912 wird der sich abwendende Blick zum Ausblick. Die geschlossenen Augen, von Jawlensky als übergroße dunkle Leerstellen markiert, die zugleich wie eine Maske wirken, scheinen sich einer anderen Realität zu öffnen, die nur einem gegenüber der Außenwelt blinden und Zeit vergessenen Sehen zugänglich ist. Das Mädchen kann nur sehen, weil es die Augen geschlossen hat.
Diese neue Ausrichtung des Sehens wird betont durch die blau leuchtende Aureole, die den Kopf und dessen stark kontrastierende Gelb- und Rottöne umfängt. Die Betrachter des Bildes fühlen sich nicht angeschaut und doch berührt. Sie sind ohne unmittelbaren Kontakt, werden aber auf sich selbst als Betrachtende hingelenkt und motiviert, den durch den verschlossenen Blick des Mädchens angezeigten, noch unbestimmten Raum kontemplativer Erfahrung zu besetzen.

Diese Haltung zur Welt wird auch in den zwischen 1917 und 1919 entstehenden Mystischen Köpfen deutlich. Der Blick aus hier weit geöffneten Augen trifft die Betrachter ebenfalls nicht, sondern geht durch sie hindurch. In den folgenden Serien Heilandsgesichter, Abstrakte Köpfe und Meditationen schließt Jawlensky den Dargestellten die Augen, verschmilzt Schauen und meditative Versenkung.

In der neuen Reihe haben wir ausgewählte Personen gebeten, ihr persönliches Lieblingsbild (Gemälde, Foto, Zeichnung, Druck) „in den Blick zu nehmen“ und dazu etwas zu schreiben. An jedem Fastensonntag und heute an Gründonnerstag erscheint nun ein ganz persönlicher Beitrag zu einem Bild.

Wie kam es zu dieser Idee? Ein Kunstwerk zu betrachten, sich damit auseinander zu setzen, hineingezogen zu werden, das kann glücklich machen, davon sind wir, das Redaktionsteam des Blogs „Akademie in den Häusern“, überzeugt. Aber auch die Perspektive zu wechseln und den Horizont zu erweitern, bringt uns dem Glück und der Zufriedenheit ein entscheidendes Stückchen näher. Die unterschiedlichen Bilder, die in dieser kleinen Reihe gezeigt werden, laden uns ein, genauer hinzusehen und wahrzunehmen, was ist. Auf diesen Perspektivenwechsel in der Fastenzeit freuen wir uns! Lassen Sie sich, genau wie wir, mit allen Sinnen ansprechen.

Alexej von Jawlensky
Mädchen mit niedergeschlagenen Augen, um 1912
Öl auf Pappe auf Spanplatte, 54,5 x 46,5 cm
Kunstmuseum Bonn

1. April 2021 || ein Beitrag von Dr. Volker Adolphs, Kunsthistoriker, stellv. Direktor des Kunstmuseums Bonn und Kurator der Ausstellung „Alexej von Jawlensky. Gesicht | Landschaft | Stillleben“

Eine Veranstaltung mit dem Kunstmuseum Bonn zur Ausstellung „Alexej von Jawlensky“ mussten wir aufgrund der aktuellen Situation leider absagen.
Ein abwechslungsreiches digitales Angebot für den Kunstgenuss für zuhause finden Sie auf der Internetseite des Kunstmuseums Bonn.