Unsere größte Stunde?

Am Montag dieser Woche erhielt ich meine erste Corona-Impfung und bin damit einer von 479.236 Menschen in Deutschland, denen am 5. Juli 2021 eine Impfung gegen COVID-19 verabreicht wurde. „Endlich!“ möchte ich sagen, kursierten doch in der Akademie schon Befürchtungen, der Kollege Lehnert könne ein Impfmuffel, vielleicht sogar ein Impfgegner und heimlicher Aluhut-Träger sein. Diese Befürchtungen sind natürlich völlig gegenstandslos. Der Kollege Lehnert ist nur ein etwas verträumter Mensch, der am Ende des Tages häufig feststellen muss, dass für die praktischen Angelegenheiten (Abspülen, Aufräumen, Impftermin vereinbaren etc.) wieder keine Zeit war.

Erste Begegnung mit der deutschen Impfbürokratie
Dabei hatte ich durchaus erste Schritte unternommen, um meinen staatsbürgerlichen Beitrag zum Kampf gegen die Pandemie zu leisten. Schon vor Wochen hatte ich mich im Impfportal registriert – nur um postwendend zu erfahren, dass man mir derzeit leider kein Impfangebot machen könne. Dafür hatte ich durchaus Verständnis, gab es doch viele, die in meinen Augen eine Impfung dringender brauchten als ein 43 Jahre alter, leidlich gesunder, alleinlebender und weitgehend im Homeoffice arbeitender Referent einer katholischen Akademie im Westen Deutschlands. Mit Systemrelevanz sollten Einrichtungen im Erzbistum Köln derzeit ohnehin besser nicht argumentieren …

Immerhin konnte ich aber in dem schlicht gestalteten Internet-Portal um eine Benachrichtigung per E-Mail bitten, für den Fall, dass es irgendwann auch für mich einen Termin geben sollte. Außerdem tat ich stets meine Bereitschaft kund, mich mit jedem Vakzin impfen zu lassen, das die örtlichen Behörden zur Anwendung zugelassen haben – ob es nun aus Deutschland, den USA, Russland oder China komme. Aber je mehr Zeit ins Land ging und je mehr Kolleginnen und Kollegen Impffortschritte vermelden konnten, desto weniger überzeugte meine bekenntnishaft vorgetragene Impfbereitschaft. Auch der Hinweis, ich habe bislang keine Benachrichtigung mit einem Impfangebot erhalten, erschien zunehmend fadenscheinig.

Sie haben eine Nachricht!
Nachdem ich dann den festen Entschluss gefasst hatte, mich nun „proaktiv“ und auf allen mir empfohlenen Kanälen um einen Impftermin zu bemühen, erhielt ich am 4. Juli – dem Independence Day! – eine E-Mail der KV-Nordrhein. Darin wurde mir in einigen dürren Zeilen mitgeteilt, dass es jetzt auch für mich Aussicht auf Impfschutz gebe. Ich möge bitte einmal im Portal vorbeischauen. Einen Link, der mich direkt dorthin geführt hätte, gab es natürlich nicht. Den Namen der Internetseite – ein Zahlencode, der wohl auch als Telefonnummer funktioniert – hatte ich mir natürlich nicht gemerkt, das Passwort verlegt. Aber nach einigen Versuchen wurde mir schließlich doch Zutritt zum Portal gewährt.

Dort traute ich meinen Augen kaum: Es gab eine ganze Reihe von Terminen für eine Impfung mit einem mRNA-Impfstoff – einige sogar schon am morgigen Tag! Nach ein paar Klicks hatte ich Termine für Erst- und Zweitimpfung: Montag 5.7.2021, 16:54 Uhr und Montag, 2.8.2021, 17:42 Uhr. Ort des Geschehens: IZ Köln – Messe – mRNA, Deutz-Mülheimer Straße 22-24, 50679 Köln.

Papierkram und verpasste Impftermine
Dann gab es noch ein neunseitiges Dokument, das offensichtlich niemals ein Kommunikationsdesigner zu Gesicht bekommen hatte, und das ich teilweise einfach, teilweise zweifach ausdrucken und ausgefüllt zur Impfung mitbringen sollte. Was wohl Menschen machen, die keinen Drucker haben und deren Neigung, sich durch lange Dokumente durchzuarbeiten, noch geringer ausgeprägt ist als meine? Sicher werden einige schon hier das Handtuch werfen und einfach nicht hingehen. Das sollte man in der aktuellen Debatte über nicht wahrgenommene Impftermine vielleicht berücksichtigen. Es hilft da meines Erachtens wenig, auf eine Bringschuld der Bürger zu verweisen. Fakt ist: Der Kauf eines neuen Mobiltelefons dürfte vielen leichter fallen als die Vereinbarung eines Termins im Impfzentrum.

Keine Impfung in der Präsidentensuite
Aber ich wollte mich ja auf meine praktischen Angelegenheiten konzentrieren und nicht erst wieder ein Konzept zur Verbesserung der Bundesimpfstrategie unter besonderer Berücksichtigung der rheinischen Impfzentren ersinnen. Also beschäftigte ich mich mit der Frage, wo ich morgen würde erscheinen müssen. Eine Internetrecherche ergab, dass sich das Impfzentrum im Hotel Dorint An der Messe Köln befindet.

Die Vorstellung, in der Präsidentensuite („Eine Residenz für den anspruchsvollen Gast.“) geimpft zu werden, gefiel mir sehr. Wie ein Rockstar würde ich mir von einer leicht bekleideten Gespielin einen Schuss setzen lassen, und danach bei Champagner und Kaviar noch etwas in dem 162 Quadratmeter großen Etablissement verweilen. Groß war meine Enttäuschung, als ich erfuhr, dass das IZ Köln – Messe nicht im Hotel, sondern in den gegenüberliegenden Messehallen untergebracht sei. Wie viele Leute werden allein aufgrund derartiger Ungenauigkeiten ihren Impftermin verpasst haben?!

Et hätt noch immer jot jejange
Die Verwirrung setzte sich fort, weil die Kölner Verkehrsbetriebe ein einzigartig kafkaeskes Beschilderungssystem ersonnen hat, um Menschen zum Impfzentrum zu leiten. Zudem fühlte sich wohl niemand bemüßigt, einige von Spaßvögeln offensichtlich verrückte Hinweisschilder an den korrekten Ort zurückzubringen und dort ordentlich zu befestigen. „Auch hier werden sicher ganze Heerscharen von Impfwilligen in die Irre geführt worden sein“, dachte ich mir auf meinem Weg zum Zentrum. Außerhalb der Bahnhofsanlagen hielt man eine weitere Beschilderung dann für vollständig überflüssig. Die Kölner sind ja kommunikativ und fragen sich schon irgendwie durch. Wieder einmal setzte mich diese Wurschtigkeit in Erstaunen. Man stelle sich mal vor, bei der Durchführung des Rosenmontagszuges würde derart nachlässig vorgegangen! Ein Rücktritt des gesamten Festkomitees wäre wohl die Folge. Aber gut, das ist Karneval. Heute ging es ja nur um die „größte Impfaktion der Medizingeschichte“, wie es die Organisatoren vollmundig in dem neunseitigen Dokument verkündeten.

Immer noch kopfschüttelnd komme ich beim Impfzentrum in den Messehallen an. Schlagartig ändert sich meine Stimmung jedoch beim Anblick der friedlich und geduldig in langer Schlange wartenden impfwilligen Menschen. Was für ein Schauspiel! Ordnungskräfte in grellen Warnwesten prüfen Papiere und geben knappe Anweisungen. Einer prüft mit einer Laserpistole die Körpertemperatur der Eintretenden. Hunderte Menschen ziehen an ihm vorbei, um sich dann wieder in langen schneckenartig gewundenen Warteschlangen einzureihen, wie man sie von Flughäfen kennt. Auch die übrige Einrichtung mit zahllosen Wärterkabinen, Wartebereichen und Bodenmarkierungen erinnert entfernt an Terminals, wobei dieser Koloss hier ja provisorischer Natur ist und vermutlich in Windeseile aufgezogen wurde. Das ist durchaus beeindruckend. Den logistischen Aufwand, der hinter den Kulissen dieses Schauspiels abläuft, kann man nur erahnen. Und das IZ Köln – Messe ist nur eines von etwa 460 Impfzentren in Deutschland, die seit dem 27. Dezember 2020 das Gros der insgesamt 77,9 Millionen Impfdosen ihrer Bestimmung zugeführt haben. Im Weltmaßstab gesehen dürfte das Ganze nur mit Menschheitsprojekten wie dem Bau der Pyramiden und der Mondlandung vergleichbar sein.

Von Pyramiden, Mondlandungen und Evakuierungen
So ziehen meine Gedanken durch die Weltgeschichte, während ich in der Schlange weiter vorrücke. Ziehen vorbei an den Pyramiden zu Napoleon, der seinen Soldaten beim Anblick der steinernen Riesen zurief „Denkt daran, dass von diesen Monumenten 40 Jahrhunderte auf euch herabblicken.“ Schweifen zur Kanonade von Valmy, die in den letzten Monaten kurioserweise immer wieder mal zur Kommentierung der Corona-Krise herangezogen wurde wegen Goethes berühmten Ausspruchs „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

Und schließlich zieht es mein Denken, wie so oft, zum alten Winston und nach Dünkirchen. Wie das eingekesselte britische Expeditionsheer im Mai 1940 seiner sicheren Vernichtung durch den übermächtigen Feind entgegensah. Und wie die alte Bulldogge Order zu einer in der Militärgeschichte einzigartigen Kraftanstrengung gab, um unter Mobilisierung aller verfügbaren Schiffe, darunter selbst Fischkutter und Freizeitsegler, die knapp 340.000 Soldaten „aus den Fängen des Todes und der Schande“ zu befreien und in die Heimat zu bringen. Es mag frivol erscheinen, die hier in Ruhe und Sicherheit wartenden Schlangen mit den verzweifelten englischen und französischen Soldaten zu vergleichen. I beg your pardon.

Die Parallele zwischen dem Zweiten Weltkrieg und (insbesondere in Deutschland, wo eine positive Bezugnahme zum Krieg unmöglich ist) dem folgenden Wiederaufbau einerseits und dem Kampf gegen die Pandemie andererseits ist bereits vielfach gezogen worden. Es geht dabei nicht um Gleichsetzungen. Vergleichbar scheint aber doch immerhin die Entschlossenheit, mit der unter hohem Zeitdruck riesige Ressourcen im Kampf gegen einen bedrohlichen Gegner mobilisiert werden. Vergleichbar scheint auch die duldende Beteiligung der Zivilbevölkerung, ohne deren Beitrag der Kampf nicht zu gewinnen ist. Alle, wirklich alle müssen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen, müssen mittun und ihre Ängstlichkeit oder – in meinem Falle – Bequemlichkeit überwinden.

Der Kampf gegen Delta beginnt
Vergleichbar scheint schließlich auch die seltsame Schwebesituation, in der wir uns heute befinden. Die aktuellen Fortschritte und niedrigen Inzidenzzahlen geben Anlass zur Freude und Sorglosigkeit. Aber nach Dünkirchen ging es erst richtig los.

Churchill wusste: Kriege werden nicht durch Evakuierung gewonnen. Auch ahnte er, dass seinem Land die schwersten Prüfungen erst bevorstünden. Und mit seiner stupenden Redebegabung, die in der modernen Staatskunst nicht ihresgleichen hat, schwor er seine Landsleute auf die unabwendbaren Belastungen ein: „Die Schlacht um Frankreich ist vorbei. Ich erwarte, dass die Schlacht um Großbritannien bald beginnen wird. Von dieser Schlacht hängt das Überleben der christlichen Zivilisation ab. Von ihr hängt unser eigenes britisches Leben ab, und der lange Fortbestand unserer Institutionen und unseres Empire. Die ganze Wut und Macht des Feindes muss sich sehr bald gegen uns richten. […] Wenn wir ihm die Stirn bieten können, wird ganz Europa frei sein und das Leben der Welt in weite, sonnenbeschienene Gefilde voranschreiten. Aber wenn wir versagen, dann wird die ganze Welt, einschließlich der Vereinigten Staaten, einschließlich all dessen, was uns lieb und teuer ist, in den Abgrund eines neuen dunklen Zeitalters versinken […]. Lasst uns daher unseren Pflichten nachkommen und uns so verhalten, dass, wenn das Britische Empire und sein Commonwealth tausend Jahre überdauern, die Menschen immer noch sagen werden: ‚Dies war ihre größte Stunde.‘“

Man stelle sich vor, die Bundeskanzlerin verkündete im Bundestag: „Der Kampf gegen die Varianten Alpha und Beta ist vorüber. Der Kampf gegen Delta beginnt. Von diesem Kampf hängt das Überleben der christlichen Zivilisation ab.“ Undenkbar! Und doch ist es irgendwie so, wenngleich man wohl nicht mehr von „christlicher Zivilisation“ sprechen würde. Wenn wir Delta besiegen, so ist zu hoffen, wird sich unser Leben zumindest gelegentlich wieder unbeschwert in sonnenbeschienen Gefilden abspielen können. Und beim Anblick der Bilder, die uns aus Indonesien, Indien und von sonstwo erreichen, scheint man wirklich in einen neuerlichen dunklen Abgrund zu schauen.

Also sollten wir unsere Pflicht tun und uns so verhalten, dass unsere Enkel und Urenkel mit Anerkennung auf ihre Vorfahren in den Corona-Jahren schauen und sagen können: „Das war wirklich eine große Leistung“. Mit Superlativen sollte man ja vorsichtig sein.

Solche Gedanken schwirren mir durch den Kopf, während ich geduldig vor einem der vielen Container warte. Um mich herum herrscht Gewusel, aber alles vollzieht sich erstaunlich geräuschlos. Soldaten der Bundeswehr huschen durch die Gänge und verteilen Impfdosen. Schon sitze ich auf einem Hocker, mache meinen linken Arm frei und habe meine erste Dosis erhalten. Ein großer Schritt für mich, ein kleiner für die Menschheit. Dankbar verlasse ich die Hallen, in denen das Impfen noch weitergeht. Bis in vier Wochen!

Bilder
Alle Bilder des Impfzentrums Köln-Messe aus dem Dezember 2020: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)

Deluxe Suite Dressing Room: © PPR 19 / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia commons)

Britische Truppen warten am Strand von Dünkirchen auf die Evakuierung: wikimedia commons, public domain

7. Juli 2021 || ein Beitrag von Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert