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Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – Ein Bericht aus St. Petersburg

„Wie konnten sie bloß nicht verstehen, was im Land los ist, es war doch so offensichtlich“, sagte meine Deutschschülerin. Es war im vergangenen Herbst, wir beendeten gerade das Buch „Geschichte eines Deutschen“ von Sebastian Haffner über Deutschland 1933, und ich fragte sie, was sie am meisten im Buch beeindruckte. Ich hatte die Hoffnung gehegt, dass sie die Parallelen wahrnimmt, zwischen uns und Deutschland damals. Allein schon die Ausdrücke wie „Sonderweg“, „von den Knien aufstehen“, „Volksverräter“ hätten doch auffallen können… Nein. Eine sehr nette Frau, um die 30, Mitarbeiterin im gehobenen staatlichen Dienst. Ich habe nicht den Mut, offen mit ihr zu reden, weil sie mich denunzieren könnte. Kürzlich erzählte sie mir von Faschisten in der Ukraine, nachdem sie sich – auf meinen Vorschlag hin – die Nachrichten bei der Tagesschau angesehen hat.

Sie ist hier in Russland leider nicht die einzige, welche der Propaganda glaubt. Wie konnte man die Menschen in der Zeit des Internets derart davon überzeugen, dass sie keiner anderen Information, auch nicht ihren Freunden und Verwandten in der Ukraine, die oft die gleiche Sprache sprechen, sondern unseren staatlichen Medien vertrauen?

Am meisten tut es gerade weh, dass es oft sehr sensible, feine Menschen sind, die mitfühlen und helfen wollen. Genau sie sind die ersten Opfer der Propaganda, genau sie retten in ihrer Vorstellung „die armen Ukrainer vor Faschismus“. Im Unterschied zu meiner Schülerin können die meisten keine Fremdsprachen, sie vertrauen voll dem Fernsehen und haben nicht gelernt, Informationen zu überprüfen. In diese ausgefeilte, sehr geschickt (im teuflischen Sinne natürlich) hergestellte Propaganda ist enorm viel Geld investiert worden. Hitler brauchte 6 Jahre, um das Volk zu verblöden, hier sieht man das seit ca. 20 Jahren.

Trotz allem zeigten unabhängige soziologische Untersuchungen vor dem Krieg, dass die überwiegende Mehrheit der Russen keinen Krieg will. Jetzt ist keine fundierte soziologische Datenerhebung mehr möglich, da nur einer von zehn bereit ist, solche Fragen zu beantworten. Wären aber alle dafür, was würde sie daran hindern, die Fragen zu beantworten? Es tröstet mich, dass ich noch kein einziges Mal an der Kleidung das Zeichen „Z“ gesehen habe. An öffentlichen Orten ist es überall zu sehen, aber man sieht keine Massenbegeisterung. Ein Nachbar versucht verzweifelt im Chat meines Hochhauses so ein T-Shirt zu verkaufen, es scheint doch keine Nachfrage zu geben.

Ich habe den Eindruck, dass die meisten Leute einfach irritiert sind, man hat eine dunkle Ahnung davon, dass etwas Entsetzliches passiert und weiß nicht, wie man es einordnen kann. Gestern, Fetzen eines Gesprächs auf der Straße: „Ich verstehe nicht mehr, wer dort auf wen schießt“. Und je jünger die Leute, desto weniger sehen sie fern.

Mit solchen Leuten hat es Sinn, zu reden. Das ist für mich das Einzige, was ich machen kann: mit Menschen, die mir einigermaßen vertrauen, auf persönlicher Ebene zu reden. Mit meinen Schülern im Einzelunterricht, zum Beispiel. An Protesten teilzunehmen, davor habe ich Angst. Seit 2014 nahm ich an vielen Protestaktionen teil, unter anderem gegen die Annexion der Krim. Das war auch gefährlich, aber nicht zu vergleichen mit den Gefahren von jetzt. Großaufgebote der Polizei, gepanzerte Fahrzeuge, Elektroschocker – ich sehe, wie Menschen, die ein Plakat ausbreiten, von der Polizei auf brutalste Weise festgenommen werden. Es gibt ein Gesetz über die „Verfälschung von Information über die Armee“, man kann dafür eine Haftstrafe bekommen. Ich habe jetzt Angst.

Niemand von meinen nächsten Verwandten oder Freunden unterstützt den Krieg. Nach dem ersten Nichtwahrhabenwollen fühlen alle Entsetzen, Hilflosigkeit und tiefste Trauer. Die Mütter von jungen Männern versuchen, ihre Söhne „in irgendein“ Land zu schicken, damit sie nicht zum Wehrdienst eingezogen werden.

In den dunkelsten Zeiten scheint jedoch das Licht viel heller zu sein: Für mich sind es jene Menschen, die in der Öffentlichkeit, z.B. auf YouTube, offen ihre Meinung sagen. Man sieht natürlich auch kleine Zeichen in der Stadt, „Kein Krieg“ an einem Schneehaufen, an einem Auto oder an Kleidung.

Eine Gruppe von Jugendlichen beginnt plötzlich in der U-Bahn, ein Friedenslied zu singen. Blumen an der „Kiewer“ U-Bahn-Station in Moskau. Eine Theateraufführung mit Andeutungen und Anspielungen und langem Applaus dafür. Wir haben hier seit langem gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.

Ob wir die Sanktionen schon spüren? Natürlich. Die Preise von Lebensmitteln steigen, viele Medikamente fehlen oder sind um ein Vielfaches teurer geworden. Von elektronischen Geräten ganz zu schweigen. Ich unterstütze grundsätzlich die Sanktionen, auch wenn sie natürlich unter anderem mein eigenes Leben betreffen. Ich freue mich, dass der Westen dieses Mal so einig ist. (Wäre es doch schon nach der Annexion der Krim so gewesen!) Wie immer ist die Realität jedoch viel komplexer. Mir tun Kinder mit Behinderung leid, deren Mütter jetzt nicht einmal das Nötigste für ihre Kinder beschaffen können, weil die Preise so stark gestiegen sind. Diese Kinder haben Putin nicht gewählt. Es wird viele Leute treffen, die nicht schuld sind.

Viele sehen im Moment die Sanktionen leider als Bestätigung ihrer Einstellung „Man mag uns Russen nicht“. Ich hoffe sehr, dass die infantilen Kränkungen einmal überwunden werden und man vielleicht doch zu Einsicht und Reue kommt. Das wäre das Wichtigste in einem Land, in dem die Geschichte des 20. Jahrhunderts weitgehend nicht aufgearbeitet wurde. Wird das einmal möglich sein?

Gestern hatte ich die letzte Stunde mit der eingangs erwähnten Schülerin, den weiteren Unterricht habe ich abgesagt. Ich habe sie nochmals an das Buch erinnert. Ich habe gesagt, dass die Katastrophe damals in Deutschland deshalb zustande kommen konnte, weil die Deutschen die ganze Hoffnung nur auf eine Person gelegt hatten. Wahrscheinlich nahmen sie doch Unstimmigkeiten und Widersprüche schon wahr, aber sie glaubten ihrem Staatsoberhaupt und seinen Medien und hörten nicht auf Kant: „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Ich hoffe, dass die Schülerin zwischen den Zeilen hören und lesen kann.

5. April 2022 || ein Beitrag aus St. Petersburg, Name ist der Redaktion bekannt

Eine Bekannte des Blog-Redaktionsteams hat einen Bericht über ihr Erleben der gegenwärtigen Situation in Russland geschrieben – in aller Vorsicht, und zum Schutz ihrer Person dürfen wir ihren Namen nicht nennen. Sie hat in Deutschland studiert und lebt in St. Petersburg.