Erst die Verhüllung macht das Dahinterliegende sichtbar

Ich besitze eine kleine Grafik von dem verhüllten Arc de Triomphe in Paris –  ein visionäres Kunstprojekt, das in diesen Tagen Realität wurde. Christo kann es leider nicht mehr erleben, aber sein Neffe hat das Vorhaben auf die Zielgerade gebracht. Viele Jahrzehnte war Christo mit solchen spektakulären Projekten unterwegs. Wir erinnern uns an den verhüllten Reichstag im Jahr 1995.

Oft sind es geschichtsträchtige Orte, die Christo für seine Kunst auswählt. Der Arc de Triomphe in Paris ist Anfang des 19. Jahrhunderts auf Veranlassung von Napoleon erbaut worden. Seitdem ist in der französischen Geschichte viel passiert. Heute ist an dieser Stelle das Grab des unbekannten Soldaten, an dem eine ewige Flamme brennt. Und man darf nicht vergessen: Die Franzosen betrachten diesen Ort als Heiligtum ihrer Republik, gewissermaßen als Altar des Vaterlandes.

Es geht Christo also darum, einen Ort, der mit Bedeutung und Geschichte aufgeladen ist, zu inszenieren und ihm eine gewisse Leichtigkeit zu geben. Es soll aber auch deutlich gemacht werden, was alles mit diesem Ort verbunden ist – an Geschichte, an menschlichen Erlebnissen, an Autos, die um dieses Bauwerk herumgefahren sind, an bedeutungsschwangeren Inhalten wie etwa die berühmte städtebauliche Linie, die quer durch die Stadt erdacht ist.

Es gibt also eine Fülle von Ideen, die der Arc de Triomphe symbolisiert, und die durch die Verhüllung enthüllt werden. Darum geht es: In dem Augenblick, in dem etwas verhüllt wird, wird etwas anderes sichtbar: das Dahinterliegende wird plötzlich in den Mittelpunkt gerückt. Wir kennen das aus der Kirche. Man denke an Karfreitag, an die Enthüllung des Kreuzes. Aber auch der Tabernakel mit dem Vorhang ist ein Beispiel. Oder der Hostienkelch, der von einem Mäntelchen geborgen ist. Es geht immer darum, das Unzugängliche, das, was wir nicht begreifen können, begreifbar zu machen.

Aus dem Alltag kennen wir das vom Verpacken der Geschenke. Interessant ist, dass die Geschenke, die besonders wichtig und wertvoll sind, etwa ein kostbares Parfüm oder Juwelen, mit besonders aufwendiger Verpackung umgeben werden. Aber auch unsere Kleidung, unsere Wohnung, unser Auto sind Hüllen, die manchmal mehr von uns erzählen, als wir preisgeben wollen.

Im Letzten geht es dabei immer um die Frage, ob diese Hüllen etwas von dem Unzugänglichen, Verborgenen erzählen. Wir Christen nennen Gott den Unzugänglichen, den Ewigen und Unendlichen, der nicht in Zeit und Raum hineinpasst. Dieser Gott wird aber – so lehrt es die Kirche und so glauben wir – trotzdem erfahrbar in diesen Hüllen. In der Liturgie beispielsweise gibt es Weihrauch, kostbare Gewänder, da gibt es Prozessionen, wunderbaren Gesang und Orgelmusik – all das sind Dinge, die uns vielleicht deuten können, wie Gott ist. Sie sind nicht selbst Gott, aber sie weisen darauf hin, dass Gott gegenwärtig ist. Es ist der Versuch, in diesen Hüllen etwas erfahrbar werden zu lassen, das wir nicht aussprechen und nicht greifen, nicht begreifen können, nicht festhalten können.

Ich wünsche mir, dass wir eine große Sensibilität für das Dahinterliegende entwickeln. Dass wir nicht beim Vordergründigen hängen- und klebenbleiben, sondern dass wir Mut haben, stehen zu bleiben, anzuhalten und nachzudenken. So wie Christo es mit uns beim Arc de Triomphe macht. Vielleicht entdecken wir dann Dinge, die wir bisher noch gar nicht gesehen haben, die aber unendlich kostbar sind. Ja, vielleicht entdecken wir dann hinter allem sogar den lieben Gott.

Bildnachweis

Der Arc de Triomphe wird verhüllt. Bild: Syced via Wikimedia (CC0 1.0)

Dr. Dominik Meiering, Bild: S. Schomäcker

2. Oktober 2021 || ein Beitrag von Dr. Dominik Meiering, leitender Pfarrer der Kölner Innenstadtgemeinden und Domkapitular am Kölner Dom