„Das ist nicht das Ende“ – Apokalyptisches in der Corona-Krise
Manchmal werde ich jetzt darauf angesprochen, dass ich doch eine gute Zeit haben müsste, als Theologe, der sich mit Apokalyptik befasst. Bei diesen Katastrophenzeiten. Und wird der vierte Reiter der Johannesoffenbarung, der auf dem „fahlen Pferd“ (Offb 6,8), nicht oft mit Seuchen assoziiert? Nein, entgegne ich dann, Corona ist nicht die Apokalypse. In seiner apokalyptischen Rede in den synoptischen Evangelien sagt Jesus: „Das ist (noch) nicht das Ende.“ (Mk 13,7 parr) Vielleicht ist das der wichtigste Satz biblischer Apokalypsen: Es kommt darauf an, das Ende gerade nicht zu verwechseln. Deshalb ist ständig von schlimmen Zeichen, von Kriegen und Nöten, und von Verführern, Falschpropheten und Antichristen die Rede. Sie alle geben sich als Endzeitmessiasse aus. Aber das ist nicht das Ende.
Apokalypse übersetzen wir heute assoziativ mit Weltuntergang. Aber die Bibel kennt im Grunde keinen Weltuntergang, weil sie unser modernes Konzept von Welt gar nicht hat. Es geht weder um die Biosphäre eines Planeten noch um das Universum, wenn die Apokalypse angesagt wird. Es geht um das Ende dieser unserer Zeit, dieses „Äon“, wie es im neutestamentlichen Griechisch heißt; vielleicht kann man auch sagen: unseres gewohnten Systems, unserer Normalität. Was dann kommt, ist schon im Buch Daniel, der frühesten biblischen Apokalyptik, das Reich Gottes. „Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.“ (Dan 7,14) Das steht utopisch jenseits unserer Verhältnisse, auch jenseits der Katastrophen, die aus ihnen entstehen, aber es ist keineswegs unirdisch, unweltlich gezeichnet. Am Ende bei Jesaja (Jes 54 und 66) ebenso wie in der Johannesoffenbarung (Offb21) ist vom neuen Himmel und der neuen Erde samt neuem Jerusalem die Rede. Metaphern erlöster Welt, nicht Weltuntergang.
Zurück zu den apokalyptischen Reitern. Sie symbolisieren Krieg, Inflation, Massensterben – lauter katastrophische Dinge, die es in der Geschichte immer wieder gab. Deshalb haben die Menschen sie immer wieder als apokalyptisch erlebt, angesichts der Pest, in Hungersnöten, in den Bombennächten. „Das ist nicht das Ende“, sagt Jesus. Manchmal möchte man seufzend hinzufügen: leider nicht. Denn müsste es damit nicht endlich einmal ein Ende haben, müsste Gott damit nicht endlich einmal ein Ende machen? Wer so seufzt, hat etwas vom apokalyptischen Denken begriffen: Dort wird das Ende nicht gefürchtet, sondern ersehnt.
Jetzt, in der Zeit der „Lockdowns“ gegen die Pandemie ist viel darüber zu lesen, was nach der Krise angeblich nie mehr sein wird wie zuvor: Unser Umgang mit körperlicher Nähe, der Ferntourismus, das Gesundheitswesen, vielleicht gar die ganze kapitalistische Globalisierung. Manches davon wird erhofft, manches befürchtet, manches wahrscheinlich beides gleichzeitig. Ich gestehe, dass ich skeptisch bin, denn die Beharrungskräfte menschlicher Systeme haben sich in vergleichbaren Krisen immer noch als enorm überlebensfähig erwiesen. Und so manche „Stunde Null“ erweist sich im Nachhinein als ein Mythos.
Gerade in der Krise wächst verständlicher Weise die große Sehnsucht nach der Rückkehr zur Normalität. Sich nach Normalität sehnen können sich allerdings nur Menschen, deren Normalität von Wohlstand, Sicherheit und Freiheit geprägt ist. Die Apokalypse im Sinne der großen göttlichen Unterbrechung der Normalität zu fürchten, statt sie zu ersehnen, ist im Grunde ein Privileg. (Nicht zufällig hat das Christentum weitgehend aufgehört, sich nach der Endzeit, der Wiederkunft des Herrn zu sehnen, seit es zur herrschenden Religion, ja zur Religion der Herrschenden im Abendland geworden war.)
Oppositionelle in Chile, die seit langem für mehr soziale und Bildungsgerechtigkeit in ihrem Land kämpfen, haben – an anderen Protestformen durch den Lockdown gehindert – als Slogan diesen Satz an ein großes Gebäude projiziert: „We will not return to normality, because normality was the problem”. Ich meine, dass dies nicht nur für Chile gilt. Die soziale Spaltung der Welt in nie dagewesenen Reichtum und unermessliches Elend, die ökologische Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die Bedrohung unserer Zivilisation durch den Klimawandel: All das kennzeichnet unsere Normalität selbst als katastrophisch, als apokalyptisch. So habe ich mein Buch „Apokalyptische Vernunft“ (2010) mit der These begonnen, die Moderne sei durch zwei Erfahrungen geprägt: „Wir können Geschichte machen! Dann: Wir können unserer Geschichte selbst ein Ende machen.“ Zusammengefasst wird diese Erfahrung inzwischen in dem Terminus „Anthropozän“: Wir leben in einem Erdzeitalter, in dem die Menschen über die Zukunft des Planeten entscheiden. Mein Buch „Apokalypse ist jetzt“ (2012) hat dies theologisch dahin zugespitzt, dass unsere Gegenwart unabänderlich als Endzeit definiert ist. Ständig müssen wir unser eigenes Ende verhindern, aufschieben – seine Möglichkeit negieren können wir nicht mehr. Wir selbst sind unsere Apokalyptiker.
Die biblischen Apokalyptiker konnten so etwas nicht ahnen. Und doch sind auch in ihren mythischen Bildern letztlich die Menschen selbst es, welche die Apokalypse im negativen Sinn herbeiführen: Im Buch Daniel chiffrieren die Materialien einer Statue oder Monstertiere die Weltreiche der Babylonier, Meder, Perser und Griechen (Dan 7 und 10-12). In der Johannesoffenbarung steht Babylon für Rom, die Monstertiere (in denen Daniels Bilderwelt wieder aufgegriffen wird) für das Kaisertum und seine Propaganda (Offb 13 und 17-18). Es ist also die Politik der Großmächte, es ist das Allmachtssyndrom menschlichen Imperialismus‘, welches das apokalyptische Gericht heraufbeschwört.
An der Haltung zur „Normalität“ entscheidet sich gewissermaßen die Übersetzung des Wortes „Apokalypse“: Für alle, die den status quo verteidigen (weil sie viel zu verlieren haben), bedeutet er eben Katastrophe, Weltuntergang. Für diejenigen, für die unsere Normalität selbst das Problem darstellt, nimmt es seine tatsächliche griechische Wortbedeutung ein: Apokalypse heißt Offenbarung. Sie macht offenbar, wie es um uns steht. Sie konfrontiert uns mit den Folgen des eigenen Handelns. Und sie bedeutet für Glaubende den Auftakt der Revolution Gottes gegen die Beherrscher einer üblen Normalität.
Es lohnt sich in diesem Zusammenhang zu beobachten, dass ausgerechnet populistisch-autokratisch Regierende die Krise durch das Coronavirus besonders starrköpfig kleinzureden, gar zu leugnen suchten: anfangs Boris Johnson, dann Trump, immer noch Brasiliens Bolzonaro, aber auch Diktatoren in Nikaragua oder Weißrussland. Offenbar sind es gerade solche Machthaber, welche nichts so sehr fürchten wie die Unterbrechung der von ihnen scheinbar beherrschten Normalität. Was sie nicht beherrschen können, darf einfach nicht wahr sein, und koste diese Verdrängung auch tausende Menschenleben.
Ähnliche Verdrängungskünste aktivieren ja auch hierzulande um ihre Normalität „besorgte Bürger“ neuerdings auf „Hygiene-Demos“. Dabei geht es wohl vor allem um Seelen-Hygiene. Denn wir Bürger der „reichen Länder“ sind stets beides, Täter und Opfer, Profiteure und Bedrohte der Verhältnisse. Darum schwanken wir zwischen der Sehnsucht nach Normalität und dem Wissen um notwendige Veränderung, zwischen Cocooning im Privaten und Verschwörungsmythen, zwischen „Fridays for Future“ und Angst vor Kursverlusten des DAX.
In diesem Sinn ist dann auch die Corona-Pandemie apokalyptisch: Sie macht unsere Verhältnisse krasser offenbar. Sie zeigt grell, wer sich leicht schützen kann, mit Staatshilfe im Homeoffice, und wer der Seuche schutzlos ausgeliefert wird, im Flüchtlingslager von Moria etwa. Auch Viren und Naturkatastrophen haben ihre Neutralität als „höhere Gewalt“ eingebüßt. Zwar gab es Pandemien immer, aber wir wissen, dass die Viren aus dem Tierreich auch wegen ökologischer Zerstörung und Tierindustrien zunehmen. So wie es Wirbelstürme immer gab, aber der anthropogene Klimawandel sie verstärkt. Corona ist weder eine Strafe Gottes (wie Fundamentalisten behaupten) noch gar ein Werkzeug in der Hand finsterer Mächte (Chinesen, Juden, Bill Gates – wie Verschwörungsmythologen propagieren). Die Corona-Pandemie ist schlimm – aber nicht apokalyptisch im Sinne eines Weltuntergangs. Doch wer nicht unter „Apokalypse-Blindheit“ leidet (wie es Günter Anders unserer Zeit attestierte), dem offenbart diese Katastrophe eine Menge.
31. Mai 2020 || ein Beitrag des Theologen Dr. Gregor Taxacher, der am Institut für Theologie der TU Dortmund arbeitet. Der für seine Veröffentlichungen zur Apokalyptik bekannte Autor war früher Mitarbeiter der Akademie und ist heute bei Tagungen und Seminaren häufig als Referent zu Gast.
Foto: (c) Gregor Taxacher
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