Be-Geisternd: Pfingsten in Stein gemeißelt

„Pfingstliches Bilderbuch“: das Portal von Vézelay

„La colline inspirée“, so nannte der französische Schriftsteller Maurice Barrès Vèzelay, diesen besonderen Ort im Herzen Burgunds. „Der vom Geist erfüllte Hügel“ wird von der berühmten Basilika Sainte-Marie-Madeleine bekrönt. Der Geist, genauer gesagt die Herabkunft des Heiligen Geistes, ist auch das Thema des gewaltigen Portals, das sich zwischen Vorhalle und Mittelschiff der Pilgerkirche auftut. Das über neun Meter breite und aus neun Steinblöcken bestehende Tympanon ist gleichermaßen Faszinosum und Rätsel der Kunstgeschichte. Während das ursprüngliche Portal in der Außenfassade im Zuge der Französischen Revolution zerstört wurde, hat sich im Schutze der Vorhalle ein Ensemble aus zentralem Hauptportal und zwei kleinen Seitenpforten aus der Zeit um 1120-40 erhalten.

Pfingstsonntag, 31. Mai 2020 || ein Betrag von Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Peters

Unter ihrer Leitung ist u.a. die Ferienakademie auf den Spuren von Literatinnen und Literaten durch Paris geplant (24. bis 28. Oktober 2020).

Gesamtansicht Portal

Portal mit geöffneter Tür

Abguss des Portals im Palais de Chaillot in Paris

Trotz erheblicher Beschädigungen ist das Thema des großen Tympanons schnell ausgemacht: Pfingsten. Auf den ersten Blick lässt sich die übergroße Christusgestalt inmitten der Apostel erkennen. Christus sitzt höchst elegant, Kopf und Oberkörper frontal und die Beine seitlich wie im „Damensattel“ weggeklappt, auf einem aufwändig dekorierten, doch auch etwas windschiefen Thron. Seine Arme sind ausstreckt, sodass die beiden großen Hände (die linke weggebrochen) seitlich über den Rand der Mandorla herausragen, die die Gestalt Christi samt Kreuznimbus umfängt. Von den Fingerspitzen Christi gehen wie Strahlenbündel steinerne Stege aus, die eine Verbindung zu den Häuptern der Apostel herstellen. Die Apostel sitzen, teilweise hintereinander gestaffelt, in unterschiedlichen, meist lebhaften Posen und halten jeweils ein Buch in Händen. Mantelzipfel flattern, Gewandsäume werden wie von einem Wind gelüpft und an der Hüfte und dem linken Knie Christi bilden sich gar spiralige Wirbel. „Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen“ (Apg 2,2). Die Figuren mit ihren bewegten Gewändern erscheinen wie von diesem Sturm erfasst. Der moderne Betrachter, an Abstraktion gewöhnt, könnte in den ungeheuer dynamischen und betörend schönen Faltenspiralen auf dem Gewand Christi im Zentrum des Tympanons ein Symbol für das Wehen des Geistes erkennen. Die steinernen Stege bleiben nüchterne Hilfslinien, während die Figuren und ihre Gewänder lebendig werden.

Detail mit thronendem Christus

Doch anders als in der Pfingsterzählung der Apostelgeschichte ist hier, wie beispielsweise auch auf der Holztür von St. Maria im Kapitol in Köln oder dem Retabel aus Stablo im Musée Cluny in Paris, Jesus gegenwärtig und der Heilige Geist geht von ihm aus. Damit scheint der Auftraggeber Position zu beziehen in dem damals schon Jahrhunderte währenden theologischen Streit um das „Filioque“. Gemeint ist die Frage, ob der Geist vom Vater und vom Sohn oder nur vom Vater ausgehe. Sie wird bis heute in West- und Ostkirche unterschiedlich beantwortet. Die Textquellen sind nicht eindeutig. In seiner Pfingstpredigt scheint Petrus geradezu die Skulpturen von Vézelay zu kommentieren: „Da er [Jesus] nun durch die rechte Hand Gottes erhöht ist und empfangen hat den verheißenen Heiligen Geist vom Vater, hat er diesen ausgegossen, wie ihr hier seht und hört“ (Apg 2,33). So ließe sich auch die monumentale und gewissermaßen „erhöhte“ Erscheinung Christi als Richter auf dem Thron erklären.

Vielleicht sollte aber die Bildhauerwerkstatt von Vézelay auch eine andere Bibelstelle illustrieren. Der Evangelist Johannes berichtet, wie der Auferstandene schon am Abend des Ostertages den Jüngern den Heiligen Geist einhaucht: „Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten“ (Joh 20, 21ff). Diese Vollmacht der Apostel wird auch versinnbildlicht durch den mächtigen Schlüssel, den Petrus vorweist. Und das gleich dreimal: im Bogenfeld selbst, zur Rechten Christi; am Türsturz, rechts von der Mitte; im rechten Gewände, obere Zone. Pfingsten gilt als Geburtsstunde der Kirche. Nach der Mitte des 12. Jahrhunderts erscheint oft Maria als Personifikation der Ecclesia im Zentrum der Pfingstdarstellungen. Denkbar ist, dass hier in Vézelay Petrus so eindringlich mit seinem Schlüssel hantiert, um zu zeigen, wie sorgsam er den Gnadenschatz der Kirche verwaltet. Vielleicht auch ein Programmbild der Gregorianischen Reform? Vézelay gehörte seit 1058 zu Cluny, das die Reform intensiv unterstützte und dessen Patrone im Übrigen die Apostelfürsten waren.

Das Thema der Sünde und Sündenvergebung war in Vézelay schon durch die Kirchenpatronin, die Heilige Maria Magdalena, vorgegeben. Vielleicht war sie am heute zerstörten Fassadenportal dargestellt, wo sie die Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela hätte empfangen können. Denn Vézelay war wichtiger Sammlungsort der Wallfahrer, die oft zur Buße nach dem fernen Spanien unterwegs waren. Maria Magdalena wurde im Mittelalter mit der anonymen Sünderin aus dem Neuen Testament identifiziert, die im Hause des Pharisäers Jesu Füße mit ihren Tränen netzte und zu der er sprach: „Dir sind deine Sünden vergeben“ (Lk 7,48). Eine solche Heilige mochte den reuigen Pilgern als Vorbild dienen, die zur Verehrung ihrer Gebeine in Vézelay Station machten.

Am Mittelpfeiler des Portals, dem sogenannten Trumeau, ist jedoch nicht Maria Magdalena, sondern Johannes Baptist dargestellt. Der französische Dichter Paul Claudel beschreibt diese leider stark beschädigte Figur sehr poetisch: „Über dem Mittelpfeiler, zwischen den beiden Türen steht […] der Vorläufer, Johannes der Täufer, der von jenseits des Jordans auf das Lamm weist. Er weist nicht mit dem Finger darauf, er tut es mit dem Herzen; ich will sagen, er trägt auf der Brust eine Art Hohlspiegel, worin das heilige Zeichen geschnitten ist.“ Die Botschaft lautet: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt“. Johannes, der mit Wasser tauft, bezeugt Christus als denjenigen, „der mit dem Heiligen Geist tauft“ (Joh 1,33). Diese Verknüpfung von Geistsendung und Taufe lässt es ganz natürlich erscheinen, dass in der Frühzeit der Kirche nicht nur in der Osternacht, sondern bei einem Nachholtermin für an Ostern durch Krankheit verhinderte Katechumenen auch an Pfingsten getauft wurde. Nach der Apostelgeschichte beendete Petrus seine Pfingstpredigt mit der Aufforderung: „Tut Buße und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. Denn euch und euren Kindern gilt diese Verheißung und allen, die fern sind, so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird“ (Apg 2,38f).

Detail mit Pygmäen, Panotiern und Assyrern

Panotier mit großen Ohren

Diejenigen, „die fern sind“ und dennoch den Heiligen Geist empfangen werden, haben die Bildhauer von Vézelay auf unvergessliche Weise ebenfalls ins Bild gesetzt. Auf dem Türsturz und in der inneren Archivolte, hier in kastenförmige Bogensegmente gegliedert, sind auch die mythischen und monströsen Völker fernster Weltgegenden dargestellt. So sind rechts am Türsturz die Pygmäen zu sehen, die so kleinwüchsig sind, dass sie ihre Pferde mittels Leitern besteigen. Rechts von ihnen lassen sich die schon von Plinius d. Ä. erwähnten Panotier mit ihren Riesenohren identifizieren, in die sie sich des Nachts wie in eine wärmende Decke einwickeln können. Unmittelbar darüber, im untersten Segment der Archivolte, sind vielleicht die Assyrer gemeint, über die Strabon berichtet: „Sie tragen Schuhe, die wie Stelzen anmuten, sie tragen auch ein Zeichen sowie einen Stab.“ Weiter oben, rechts und links neben dem Haupte Christi, sind die Kynokephaloi und die Scirithen dargestellt. Erstere haben Hundeköpfe, leben im fernen Indien und können nur bellen, Letztere leben ebenfalls in Indien und tragen eine Art Schweinerüssel statt einer Nase im Gesicht. Kenntnis von den exotischen Weltgegenden und ihren sonderbaren Bewohnern lieferten die antiken und mittelalterlichen Schriftsteller.

Aber nicht alle Darstellungen lassen sich überzeugend identifizieren. Es scheinen nicht nur fremde Völker, sondern mitunter auch menschliche Gebrechen und Defekte gemeint zu sein. Im dritten Bogensegment von links werden Menschen mit wie Flammen züngelndem Haupthaar gezeigt, das häufig für Besessenheit steht. Im selben Kompartiment hockt ein Mensch mit übergeschlagenem Bein, der einen Dorn aus seinem Fuß zu entfernen sucht. Dieser antike Typus des „Dornausziehers“ wurde im Mittelalter als Sinnbild des Heidentums gedeutet bzw. des Sünders, den der Stachel der Sünde quält. Sieht man in Vézelay auch den Missionsauftrag Jesu ins Bild gesetzt, so kann es nicht nur um Predigt und Taufe gehen. Die Jünger sollten in alle Welt gehen und predigen, aber auch böse Geister austreiben und den Kranken die Hände auflegen (Mk 16,15f). Alle sollten Gottes Heil erfahren, auch die, „die fern sind“.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass Petrus Venerabilis, der als Prior in Vézelay wirkte, bevor er 1122 zum Abt von Cluny gewählt wurde, die erste Koranübersetzung ins Lateinische initiierte. Sicher ist es kein Zufall, dass der Apostel Petrus in seiner Pfingstpredigt seinem „Ghostwriter“, dem Propheten Joel, nur in einer kurzen Passage folgt. Petrus zitiert dessen Weissagung: „Da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch“ (Apg 2,17 nach Joel 3,1). Er verschweigt indessen die auf diese Sätze folgende Kriegsansage an die fremden Völker: „Ruft dies aus unter den Heiden! Bereitet euch zum heiligen Krieg! […] Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße! […] Die Heiden sollen sich aufmachen und heraufkommen zum Tal Joschafat; denn dort will ich sitzen und richten alle Heiden ringsum. Greift zur Sichel, denn die Ernte ist reif! […] Dann wird Jerusalem heilig sein, und kein Fremder wird mehr hindurchziehen“ (Joel 4,9-17). Das klingt geradezu wie ein Aufruf zum Kreuzzug. Tatsächlich sammelten sich die Heere der Kreuzritter im 12. Jahrhundert in Vézelay. Heute noch markiert ein Kreuz am Rand des Dorfes den Ort, an dem Bernhard von Clairvaux den Kreuzzug gepredigt hat. In gewisser Weise ist der Kreuzzugsgedanke aber die Perversion des Missionsauftrages an die Apostel. Die Kreuzritter hatten die Pfingstbotschaft gründlich missverstanden. Und das wunderbare Tympanon von Vézelay wohl auch. Erinnern wir uns: Der Gruß Jesu am Abend des Ostertages, bevor er den Jüngern den Heiligen Geist einhauchte, lautete: „Friede sei mit euch.“.

Detail mit Besessenen und Dornauszieher

Titelbild: Blick auf Vézelay, Office de tourisme de Vézelay, Wikipedia, gemeinfrei
Beitragsbilder: Elisabeth Peters