Auf ein Wort mit… Prof. Dr. Rüdiger Görner

In Ihrem Essay „Der Staat als das Maß des Menschen“, in dem Sie sich mit Herfried Münklers Studien über die Staatsraison in der frühen Neuzeit auseinandersetzen, beschreiben Sie das Spannungsfeld zwischen aufkeimendem Nationalismus und Macchiavellis zur Macht strebenden, absolut gesetzter Staatsraison. Sehen Sie in den aktuellen Konflikten zwischen einzelnen Staaten der EU zum Beispiel um die Gesetzgebungshoheit eine analoge Reibungsfläche?

Insofern ‚ja‘ als Macchiavelli die Staatsraison in der Gestalt des Fürsten personalisierte, fraglos eine Versuchung für bestimmte Politiker auch in der heutigen Europäischen Union. Das Problem ist derzeit ein Fehlverständnis von staatlicher Souveränität unter den Bedingungen digitaler Globalisierung, die nur eine Form der Autokratie kennt, die der in sich aus Verflechtungen bestehenden Konzerne, wobei die Hauptkapitaleigner ‚macchiavellistisch‘ vorgehen. Das Bizarre ist, dass wir seit dem Thatcherismus durch eine lange Phase von Privatisierungen staatlicher Unternehmen gegangen sind – im Namen der sogenannten Globalisierung, die jedoch vor lauter Ökonomismus vergessen hat, was wirkliches kosmopolitisches Kulturbewusstsein ist –, wobei nunmehr der Staat dabei ist, für sich auf dem Verordnungsweg in Zeiten der Pandemie neue Autorität zu erzwingen. Auf EU-Ebene ist und bleibt das Subsidiaritätsprinzip gültig, das heißt, die (trans-)nationalen und regionalen Verantwortlichkeitsbereiche sind genau zu definieren und von Fall zu Fall zu revidieren.

Sie haben sowohl als Wissenschaftler, etwa in Ihrem Band „Literarische Betrachtungen zur Musik“ als auch in Ihrem Prosa-Werk, etwa in „Mozarts Wagnis“ das Verhältnis von Sprache und Musik beleuchtet und beides einander an die Seite gestellt. Am heutigen 5. Dezember 2021 jährt sich Mozarts Todestag zum 230. Mal. Welche Rolle spielt Mozart und seine Rezeption in Musik und Literatur aus Ihrer Sicht noch heute?

In der unmittelbaren Gegenwartsliteratur scheint Mozart einstweilen verschwunden; da sind jedoch Wellenbewegungen zu beobachten. Literarisch bleibt er jedoch gegenwärtig durch die Arbeiten von Wolfgang Hildesheimer, Peter Shaffer oder Anthony Burgess. Doch ‚Mozart‘ steht für einen Anspruch (in) der Kunst. Vom Standpunkt des Interpreten befand Alfred Brendel einmal, dass bei Mozart jede Note zähle. Deswegen konnte Mozart seinem Auftraggeber, Kaiser Joseph II, auf seine Bemerkung, die Entführung aus dem Serail habe zu viele Noten, auch antworten: ‚Genauso viele wie nötig.‘ Jede Note zählt wie auch jeder Buchstabe in der Literatur zählen sollte, jeder Pinselstrich, jede Formung einer Plastik, jedes Bühnenrequisit oder jede Kameraeinstellung beim Film, jede Nuance in einem Installationsarrangement oder jeder Belichtungswert in anspruchsvoller Photographie. Eines sei jedoch festgehalten: der, sagen wir, zweite Satz des Klavierkonzerts KV 488 braucht keine Literatur; sie braucht ihn.

Bilder zwischen Bohemien und Bürgerkünstler, Aufnahmen von Charme bis Kalkül: In Ihrem neuen, gemeinsam mit Dr. Kalterina Latifi herausgegebenen Bildband zu Thomas Mann zeigen und kommentieren Sie viele weitgehend unbekannte Portraits Manns. Ihr Band legt laut Süddeutscher Zeitung am 26. März 2021 den Eindruck nahe, dass „damit heute nur zum Massenphänomen abgesunken ist, was zu Anfang des Zeitalters technischer Reproduzierbarkeit ein wirklich neues künstlerisches Verfahren war“: Die Selbstinszenierung Thomas Manns, lange vor den Social Media. Diese Fragestellung wird uns auch am kommenden Wochenende 11./12. Dezember 2021 im Rahmen einer Akademietagung beschäftigen, und wir freuen uns sehr, dass Sie uns als Referent persönlich in Ihre Forschung Einblick gewähren werden. Was hat Sie an dieser Frage – oder an Thomas Mann – so gereizt, dass Sie sie bzw. ihn in den Mittelpunkt eines so aufwändigen Bildbandes stellten?

Was uns wichtig war und was ein Faszinosum bleibt: in der staunenswerten Vielgesichtigkeit Thomas Manns eine Entsprechung zu sehen zur immensen Vielschichtigkeit in seinem Werk. Diese Selbstinszenierung entstammte nicht nur narzisstischen Bedürfnissen; sie war auch Einspruch gegen die ideologisch aufgeputschten Massen. Das grauenhafte Motto des Faschismus: ‚Du bist nichts, dein Volk ist alles‘ fand auch durch diese Mann-hafte Selbstinszenierung ihr Gegenbild: Wer den Einzelnen nicht mehr sieht, verkennt das Menschliche.

Wenn heute allgemein von Intermedialität gesprochen wird, dann lautet unser Befund: Thomas Mann lebte die Beherrschung diverser Medien – gerade auch durch seine Selbstinszenierungen. Damit setzte er aber auch seine Verkörperung des Literarischen in Szene, öffentlichkeitswirksam und eminent politisch. Er baute sich selbst auf als Gegenbild zum Führerkult der Zeit. Thomas Manns mediale Präsenz war auch ein Einspruch gegen das Bildmonopol desjenigen, den sein zweitältester Sohn, der Historiker Golo Mann, nur mit „H.“ zu bezeichnen über sich brachte.

Ansonsten gilt, was der große bengalische Dichter, Rabindranath Tagore befand: „Dichter sind sprichwörtlich eitel, und ich mache da keine Ausnahme.“ Übrigens begegneten sich Tagore und Mann 1921 in München, wobei Tagore nicht ganz klar war, wen er da vor sich hatte, was den Autor von Buddenbrooks und Tod in Venedig denn doch pikierte. Im Tagebuch nahm dieser still Rache, indem er von Tagore schrieb, er habe den Eindruck einer „feinen alten englischen Dame“ auf ihn gemacht. In einem Brief Thomas Manns über Tagore aus jener Zeit findet sich übrigens eine Bemerkung, die einiges aussagt über Manns Bildverständnis vom Anderen: „Das Bild, das ich mir von ihm machte, ist malerisch, aber blaß, und gewiß that ich unrecht, von dieser subjektiven Blässe seines Bildes auf eine objektiv vorhandene zu schließen und mir den Mann und Dichter allzu pazifistisch-indisch vorzustellen, beseelt von einer etwas anämischen Humanität und prinzipiellen Milde…“ Um so wichtiger war es Thomas Mann, über sein Selbstbild konturenschärfer zu verfügen.

Sehr geehrter Herr Professor Görner, wir danken Ihnen für das Gespräch und freuen uns auf die gemeinsame Veranstaltung in der Akademie!

Das Gespräch führte Felicitas Esser, Akademiereferentin

Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Referent bei der Akademietagung „MannsBilder. Mediale Darstellung und Wahrnehmung der Familie Mann“ vom 11. bis 12. Dezember 2021 (Sa.-So.) in Bensberg.

Weitere Informationen zur Veranstaltung finden Sie hier.

Einmal im Monat erscheint „Auf ein Wort mit…“ und stellt interessante und engagierte Personen vor, mit denen die Akademie auf unterschiedliche Weise verbunden ist. Gesprochen wird über Gott und die Welt, über Kunst und Kultur, über Aktuelles aus Gesellschaft und Kirche ….

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4. Dezember 2021 || ein Gespräch mit Prof. Dr. Rüdiger Görner, Centenary Professor of German with Comparative Literature, Queen Mary University of London

Prof. Dr. Rüdiger Görner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2012 wurde er mit dem Deutschen Sprachpreis ausgezeichnet. 2016 erhielt er den Reimar Lüst-Preis der Alexander-von-Humboldt-Stiftung für sein Lebenswerk. 2017 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande für sein Wirken im deutsch-britischen Kulturaustausch verliehen.