Auf ein Wort mit… Lilian Moreno Sánchez

Seit vielen Jahren ist das Hungertuch ein fester Bestandteil der MISEREOR-Fastenaktion. Alle zwei Jahre stellt das bischöfliche Hilfswerk ein neues Hungertuch vor und gibt damit wichtige Impulse für die Gestaltung der Fastenzeit in den deutschen Diözesen. In diesem Jahr gibt es erstmals ein ökumenisches Hungertuch, das auf Anregung von MISEREOR und dem evangelischen Hilfswerk Brot für die Welt Gemeinden beider Konfessionen nutzen. Gestaltet hat das Werk mit dem Titel „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ die chilenische Künstlerin Lilian Moreno Sánchez, die seit Mitte der 1990er Jahr in Süddeutschland lebt und arbeitet.

Wie sind Sie dazu gekommen, das aktuelle MISEREOR-Hungertuch 2021/2022 zu gestalten?

Frau Kolletzki von MISEREOR hat im Jahr 2010 eine Ausstellung von mir in der Kulturkirche Allerheiligen in Frankfurt gesehen. Die hat ihr wohl gut gefallen. MISEREOR hat mich dann kontaktiert und gebeten, zunächst einige Entwürfe zu konzipieren. Diese Aufmerksamkeit hat mich sehr gefreut. Denn schon nachdem ich mit meinem Werk LEMA einen Kreuzweg gestaltet hatte, mit Textilien aus einem Krankenhaus und mit Betttüchern von Frauen aus Chile, die Opfer der dortigen Diktatur sind, hatte ich die Idee in meinem Kopf, einmal ein Hungertuch zu gestalten. Dass sich die Kommission von MISEREOR in Aachen dann für meine Entwürfe entschieden hat, fand ich natürlich noch toller.

Serie LEMA, XI. Station | 2009-2011 | Siebdruck, Zeichnung und Gold auf Stoff | 100×160 cm

Gab es denn seitens MISEREOR inhaltliche Vorgaben, dass etwa das Werk zu einer bestimmten Bibelstelle oder zu besonderen inhaltlichen Aussagen zu gestalten sei?

Es gab ein Thema: „Mehr Mensch – Wir arbeiten nicht vergebens“. Dabei ging es also um menschliche und menschenwürdige Arbeit. Damit verbunden waren Fragen wie: Wo bleibt der Mensch in unserer Wirtschaftsordnung? Was wird aus der Arbeit? Die meisten Menschen definieren sich ja über ihre Arbeit. Wird das auch in Zukunft noch so sein? Hintergrund dieser Fragen ist die Kritik an einer Wirtschaft, die in Teilen, wie Papst Franziskus sagt, tötet mit ihrer Gier nach Profit, mit ungerechten Strukturen und massiver Ausbeutung von Rohstoffen, Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft. Das Projekt fand ich sehr inspirierend, weil diese Themen auch in meinem Heimatland Chile sehr aktuell sind. Aber abgesehen davon war ich in meiner Arbeit komplett frei. MISEREOR hat mich zunächst gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, einige Entwürfe für ein Hungertuch zu diesem Themenkomplex zu konzipieren. Ich war aber konzeptuell vollständig frei.

Im Hungertuch wie auch in vielen anderen Werken, die Sie geschaffen haben, finden sich Aufnahmen aus medizinischen Untersuchungen – wie etwa Röntgenbilder. Was fasziniert Sie an diesen Aufnahmen so sehr, dass sie diese in ihre Werke integrieren?

Ja, das stimmt. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit Röntgenbildern. Es ist dieser Blick nach innen, der mich fasziniert. Röntgenbilder können innere Verletzungen sichtbar machen und uns unsere Zerbrechlichkeit als Menschen zeigen. Bisher hatte ich mich mit Röntgenaufnahmen aus medizinischen Büchern auseinandergesetzt. Für das Hungertuch habe ich mich erstmals mit Röntgenaufnahmen eines Fußes von einem Menschen befasst, der im Oktober 2019 bei Protesten gegen soziale Ungleichheit in meinem Heimatland Chile verletzt wurde. Damit wollte ich aussagen, dass diese Verletzung ein reales Thema ist. Verletzungen, die Menschen erleiden, sind ein Thema, das immer wieder in meinen Arbeiten auftaucht. Dahinter stehen die Fragen: Was ist der Mensch? Warum leidet er? Angeregt von der Durchsichtigkeit des Röntgenbildes möchte ich diese Verletzungen offenlegen und zugleich das Leiden durch die Kraft und Leichtigkeit lösen.

Unter den biblischen Motiven scheint Sie vor allem die Leidensgeschichte Jesu zu inspirieren. Sie haben einen Passionszyklus geschaffen und die Stationen des Kreuzweges gestaltet. Eine Doppelserie von Zeichnungen trägt den Titel „Tengo sed – mich dürstet“ – auch das ein Verweis auf die Kreuzigung Christi (Joh 19,28). Warum befassen Sie sich gerade mit dieser schmerzhaften Leidensgeschichte so intensiv?

Der Mensch in seiner existenziellen Situation hat mich in meiner Kunst immer beschäftigt. Vielleicht liegt es daran, dass ich in einer Diktatur aufgewachsen bin und mich sehr früh mit sehr schwierigen existenziellen Themen auseinandersetzen musste. Mit meiner Kunst versuche ich immer wieder, eine Antwort auf die Frage „Warum gibt es das Leiden?“ zu finden. So habe ich in meiner Serie LEMA den Kreuzweg als Metapher für das menschliche Leid gewählt.

Serie LEMA, XIV. Station | 2009-2011 | Siebdruck, Zeichnung und Gold auf Stoff | 100×150 cm

Für diese Serie habe ich mich mit Frauen getroffen, die ihre Männer während der Diktatur verloren haben. Von ihnen habe ich ihre eigene Bettwäsche bekommen. Mit diesen Stoffen habe ich dann mein Kunstwerk konzipiert.
Die Bettwäsche erinnert an die Menschen, die darin gelegen haben. Ihre Geschichte und ihre Emotionen sind in diesen Stoffen gewissermaßen gespeichert. Ich möchte damit vielleicht auch Emotionen wecken und sagen: Die Passionsgeschichte ist real, wir erleben sie jeden Tag.

Sie haben aber nicht nur Bilder und Zeichnungen geschaffen, sondern auch Sakralräume gestaltet. In der Pfarrei St. Bernward in Ilsede haben Sie 2017/18 die neuen Fenster der Pfarrkirche entworfen. Auch hier geht es um Passion und Auferstehung. Zur gleichen Zeit haben Sie für die St. Marien-Kirche in Braunschweig-Querum neben Altar, Ambo und Taufbecken ein Textband gestaltet, das in den Boden der Kirche eingelassen wurde. Was hat es damit auf sich?

Die Neugestaltung der St. Marien-Kirche in Braunschweig geschah auf Einladung der Gemeinde. Es war ursprünglich ein sehr schönes Kunstprojekt, das wir mit dem Architekten und dem Bistum Hildesheim konzipiert hatten. Aber wegen der zu geringen Finanzierung war es nicht möglich, dieses Konzept zu realisieren. Man hat sich dann für eine andere Gestaltung des Raumes entschieden. Was das Textband angeht, hatte ich mir gewünscht, dass die darin verwendeten Texte von den Gemeindemitgliedern, den Menschen vor Ort, geschrieben werden. Das war meine ursprüngliche Idee. Aber der Pfarrer wollte das Magnificat aus dem Lukasevangelium verwenden. So haben wir das dann auch gemacht.
Mit den Glasarbeiten in Ilsede war die Erfahrung eine andere. Hier hatte ich alle Freiheiten. Für die Motive der Fenster durfte ich zum Beispiel zwei Texte der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit verwenden, die sie für meine Bilderserie „LEMA“ geschrieben hat. Dazu hatte Diamela Eltit für jede Station des Kreuzweges einen Satz geschrieben. Beim Passionsmotiv habe ich ihren Text „Oscilo entre el miedo y la furia“ – „Ich schwanke zwischen Angst und Wut“ verwendet. Beim Auferstehungsmotiv, der letzten Station, habe ich die Textzeile „Tan inciertos, nuestros órganos“ – „So verletzlich sind unsere Organe“ genommen. Mich interessiert gerade bei der Beschäftigung mit Kunst im kirchlichen Bereich dieses offene Moment, das auch in diesen Worten zum Ausdruck kommt.

Eine letzte Frage, die sich angesichts Ihrer zahlreichen Arbeiten zu christlichen Motiven aufdrängt: Würden Sie sich als „christliche Künstlerin“ bezeichnen oder ist das ein Begriff, mit dem Sie nicht viel anfangen können?

Viele Leute sagen, dass ich „christliche Kunst“ mache. Ich erwidere dann, dass ich mich eigentlich mit existenziellen Themen auseinandersetze. Mein Thema ist der Mensch. Das hat mich immer interessiert: Was bewegt den Menschen innerlich? Nehmen Sie zum Beispiel meinen Passionszyklus. Da ist eine Frau, die heilige Katharina, aber ich wollte mich nicht mit der Geschichte der heiligen Katharina auseinandersetzen, sondern mit den Themen Gewalt, Tod und Überwindung. Auch in der Serie „La Falta“ – „Der Mangel“ steht eine Frau – Maria Magdalena – den Röntgenaufnahmen gegenüber.

Serie La Falta | Skizzen | 2003 | Druck und Zeichnung auf Stoff | 19×28 cm

Die Darstellung von Schönheit und Trauer, von Leid und Erlösung – das sind alles existenzielle Themen. In diesem Sinn bezeichne ich meine Kunst als „existenziell“ und würde mich nicht als christliche Künstlerin beschreiben. Aber als christlicher Mensch wünsche ich mir, mich im Leben aufmerksam und respektvoll zu den anderen zu bewegen.

Liebe Frau Moreno Sánchez, wir bedanken uns für dieses Gespräch und freuen uns, dass „Ihr“ Hungertuch die Fastenzeit in diesem und dem kommenden Jahr inspirieren wird.
Das Interview führte Akademiereferent Dr. Matthias Lehnert.

Weitere Informationen zum Hungertuch und zur Arbeit von Lilian Moreno Sánchez finden Sie auf diesen Internetseiten:

https://www.misereor.de/mitmachen/fastenaktion/hungertuch

http://morenosanchez.com/

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Bilder
Porträt Lilian Moreno Sánchez. © Härtl/MISEREOR (Bildausschnitt)
Alle Aufnahmen von Kunstwerken mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. © Lilian Moreno Sánchez

6. März 2021 || ein Gespräch mit der Künstlerin Lilian Moreno Sánchez, Gestalterin des MISEREOR-Hungertuchs 2021/2022