Auf den Zeitpunkt kommt es an!

Ein Nachtrag zu Marta und Maria

Am vergangenen Mittwoch (29. Juli 2020), dem Namenstag der heiligen Marta, hat Dr. Gunter Fleischer, der Leiter der Erzbischöflichen Bibel- und Liturgieschule Köln, in diesem Blog dargelegt, wie sich das Verständnis einer Bibelstelle oft erst erschließt, wenn sie im Zusammenhang gelesen und interpretiert wird.

Dr. Fleischer empfiehlt, gelegentlich nicht nur eine Textpassage herauszugreifen, sondern ein ganzes Buch der Bibel, etwa eines der Evangelien, „am Stück“ zu lesen. Auf diese Weise könne man zum Beispiel erst verstehen, was Jesus meint, wenn er Marta zurechtweist und über ihre Schwester Maria sagt, sie habe „den guten Teil“ gewählt. Denn erst im Zusammenhang mit dem unmittelbar vorausgehenden Gleichnis vom barmherzigen Samariter werde deutlich, dass die Erzählung vom Besuch Jesu bei den Schwestern in Bethanien dazu einlade, „immer neu achtsam zu werden für Situationen, die eine solche Entscheidung verlangen – für „den guten Teil“.

Demnach hat Maria also in dieser konkreten Situation richtig gehandelt, als sie sich ganz darauf konzentrierte, Jesus zuzuhören, während Marta mit ihrer Betriebsamkeit falsch lag. Dr. Fleischer folgert: Auf den Zusammenhang kommt es an!

Eine ganz andere Interpretation bietet Meister Eckhart, der mittelalterliche Dominikanerpater und Mystiker. In einem Traktat argumentiert er: Marta, die Ältere der beiden Schwestern, hat schon durchlebt, was ihre jüngere Schwester Maria erst noch lernen muss. Marta hat das schon hinter sich, was Maria gerade erfährt. Martas Glaube ist bereits gefestigt und findet Ausdruck in ihrer tätigen Nächstenliebe. Sie ist der reifere Mensch. Maria hingegen braucht die Unterweisung, die Betrachtung des Wortes, bevor sie zu einem rechten Handeln fähig sein wird. Diese Möglichkeit im Zuhören zu wachsen, soll ihr nun nicht genommen werden. Freilich wäre Maria in der Lage, ein wenig mit anzupacken und ihrer Schwester im Haushalt zu helfen. Aber dies wäre dann eben nur leere Betriebsamkeit, keine geisterfüllte, auf den Nächsten bezogene Tätigkeit. So kann man also mit Meister Eckhart auf die Frage nach dem rechten Verhältnis von Aktion und Kontemplation sagen: Auf den Zeitpunkt kommt es an!

Einige interessante Texte im Internet befassen sich mit dieser Interpretation der Bibelstelle:

In einem kurzen lesenswerten Artikel verbindet der Jesuit Christof Wolf SJ, der kürzlich für diesen Blog ein Interview gegeben hat (Beitrag vom 12. Juli 2020), Eckharts Interpretation mit der Essenz der ignatianischen Spiritualität.

Astrid Nettlings Beitrag für den Deutschlandfunk nimmt sie mit auf eine rechte tour d’horizon, auf der Ihnen neben Meister Eckhart auch der Maler Diego Velázquez, der Theologe Dietmar Mieth und der Philosoph Immanuel Kant begegnen werden.

Ebenfalls im Deutschlandfunk schaut Monsignore Stephan Wahl auf die Schwestern von Bethanien und vertieft sich in die Meditation der feministischen Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel. Seinen Beitrag finden Sie hier.

Bild

Diego Velázquez (um 1618): Cristo en casa de Marta y María. National Gallery London. Wikipedia, gemeinfrei.

2. August 2020 || empfohlen von Dr. Matthias Lehnert, Akademiereferent